Chaos, Ordnung und Schönheit

Musik der Extreme #5 präsentierte belebende Seite der Neuen Musik

Immer wieder kann man feststellen, daß sich gerade Neue und Alte Musik belebend im Konzert gegenüberstehen. Oft ergeben sich – trotz der vermeintlich großen Brücke vom Damals ins Jetzt, überraschende Gemeinsamkeiten. Das Ensemble continuum XXI hatte unter anderem vor zwei Jahren in Hellerau die Mikrotonalität unserer Zeit jener des 16. Jahrhunderts gegenübergestellt [Konzert »Colors und Lamento«, NMB berichteten]. Am Mittwoch war das Ensemble im Klemperer-Saal der Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) zu Gast und sorgte für eine neue Begegnung.

Ensemble continuum XXI und Alberto Arroyo (in der Mitte) im Klemperer-Saal der SLUB, Photo: NMB

Es war gleichzeitig der vorläufige Endpunkt der aktuellen Musikreihe in der SLUB sowie der »Musik der Extreme«. Mit Teil fünf, »Chaos und Ordnung«, wurde thematisch ein Ende erreicht, doch war dies kein genereller Abschluß – der reichhaltige Bestand an Neuer wie an Alter Musik wird künftig weiter erlebbar, hörbar in den Programmen der SLUB sein.

Das Ensemble continuum XXI war in Quartettbesetzung mit Moisés Maroto (Blockflöten), Adrían Pineda (Barockvioline), Marina Cabello (Viola da Gamba) und Dario Tamayo (Cembalo) gekommen. Der Künstlerische Leiter Alberto Arroyo moderierte den ersten Programmteil, übernahm die Leitung und hatte eine deutsche Erstaufführung mitgebracht. Wobei die »Moderation« bereits zum Teil der Aufführung wurde und mit der Musik verwoben war, denn als Einstieg hatte das Ensemble Jean-Féry Rebels Ouvertüre »Les Chaos [et l’Ordre]« aus der Simphonie nouvelle »Les Élémens« ausgewählt. Ein Klassiker der Alten Musik und das bis dato erste Beispiel eines musikalischen Clusters – noch ein Berührungspunkt zwischen »alt« und «neu«. Manches war zwischenzeitlich vergessen oder nicht gebraucht, aber letztlich immer vorhanden. Da erscheint der Name Ensemble continuum XXI geradezu symptomatisch.

Musikalienbestand der SLUB: Georg Philipp Telemanns Triosonate, Photo: NMB

Mit Rébel führten die Musiker den fließenden Übergang zwischen Vortragstext und Musik vor: die Worte von Alberto Arroyo zum Zusammenhang von Chaos und Ordnung in Physik, Philosophie und Kunst wurden übergangslos ersetzt, aufgenommen oder ergänzt von der Musik. Wie schon bei »Colors und Lamento« spielte das Ensemble auch die Neue Musik auf alten Instrumenten.

Laurine Moulin und Jessie Chen (von hinten) trugen Georges Aperghis’ Récitations vor, Photo: NMB

Ordnung und Chaos in der Musik gehen weit über die Beschreibung etwa einer (vermeintlichen) Kakophonie hinaus. Vielmehr ist beispielsweise die Dissonanz ein gezieltes stilistisches und dramaturgisches Ausdrucksmittel – wie schon Rébel oder Purcell zeigten. Alberto Arroyo hat sich in Melodia mechanica II aber nicht mit Mißklängen befaßt, sondern mit Stimmen, tonalen Schichtungen, mechanischen Klängen und Abläufen. In diesem Fall »wuchs« sein Werk »von hinten nach vorn«, also in umgekehrter Reihenfolge zur »Richtung«, in der es gespielt wird. Melodia mechanica II enthält mechanische (Cembalo) und Windgeräusche (Blockflöten ohne Mundstück), ordnet diese Tonabschnitte oder Segmente aber durch Gegenüberstellung ebenso, wie sie ineinander übergehen. Damit wird eine Art Phasenverschiebung der Aggregatzustände erreicht, kommen Verstärkung, Überlagerung, Auslöschung zum Tragen – erneut Partikel und Elemente und eine Nähe zur Physik.

Musikalienbestand der SLUB: Alberto Arroyos Melodia mechanica II, Photo: NMB

Was Richtungsfolgen wie »von hinten nach vorn« oder ähnliches bedeuten, konnte man noch eindrucksvoller in drei der Récitations von Georges Aperghis erfahren. Bei den »Rezitationen« handelt es sich um Gratwanderungen und -überschreitungen zwischen Ton, Wort, Sinn und Klang. In Kombinationen changieren Laute zwischen ursprünglicher, enthobener und neuer Bedeutung. Dabei entsteht jeweils eine Lautzeile, die mit einem Nukleus beginnt, mit jeder Zeile aber um einen (Mikro)teil ergänzt wird, so daß die Rezitation wächst. Die beiden Sopranistinnen Jessie Chen und Laurine Moulin trugen die Récitations 12, 9 und 11 vor, deren Notentext jeweils eingeblendet war, so daß man das Wachstum »nach vorn« (Récitations 12 und 9) bzw. von der Mitte aus (Nr. 11) verfolgen konnte. Dabei war die Artikulation nicht allein entscheidend – die Texte werden schnell, teilweise immer schneller, atemlos, überstürzt scheinend vorgetragen. Am eindrucksvollsten vielleicht in Nr. 11, als die beiden Sängerinnen synchron arbeiteten: Laurine Moulin mimte vor dem Publikum stumm, während Jessie Chen den Text aus dem Publikum, schließlich vor der Duopartnerin stehend, vortrug.

Die Kontinuität ergänzten György Ligetis lebhaft-elementares »Continuum« für Cembalo solo, das mit Elementen wie Wippfiguren, Repetitionen und kleinsten Tonsprüngen arbeitet, während Georg Philipp Telemann mit der Triosonate d-Moll (TWV 42:D10) und einer sinnlichen Sonate D-Dur (TWV 40:1) für die Gambe an einen Anfang der Musik führte. Claudio Monteverdis »Entrata e ballo« (Eintritt und Tanz) den Ausklang gab.

15. Mai 2025, Wolfram Quellmalz

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