Beeindruckend, überraschend, aber auch unausgewogen

Estnischer Philharmonischer Kammerchor zum 90. Geburtstag von Arvo Pärt

Der Estnische Philharmonische Kammerchor (Eesti Filharmoonia Kammerkoor) stand mit seinem Gründer und Leiter Tõnu Kaljuste Jahre, wenn nicht Jahrzehnte für ein starkes Licht in der Baltischen Chortradition und ganz speziell in der Musik von Arvo Pärt. Von seiner Gründung (1981) an prägte der Dirigent Tõnu Kaljuste das Profil des Chores entscheidend, seitdem haben Paul Hillier (2001 bis 2007), Daniel Reuss (2008 bis 2013) und Kaspars Putniņš (seit 2013) die Arbeit fortgesetzt. Tõnu Kaljuste ist aber immer wieder zu seinem Chor zurückgekehrt und hat sich nun erneut mit der Musik von Arvo Pärt, der Ende des Sommers 90 Jahre alt wird, auseinandergesetzt. Neben der aktuellen Konzerttätigkeit zeugen zwei CDs von dieser Arbeit. Werke, die in beiden Aufnahmen enthalten sind, erklangen am Dienstagabend im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele in der Martin-Luther-Kirche.

Estnischer Philharmonischer Kammerchor, Leitung: Tõnu Kaljuste, im Hintergrund Sopranistin Annika Löhmus, Photo: Dresdner Musikfestspiele, © Oliver Killig

Der erste Programmteil war vor allem durch die Berliner Messe beherrscht (auf der CD »Lento« enthalten), zwischen deren Teile andere geistliche Werke gesetzt waren. Statt eines Kammerorchesters wie bei den Aufnahmen wurde der Estnische Philharmonische Kammerchor von einer Orgel (Kadri Toomoja) begleitet. Sie trug einen wesentlichen Teil zur Atmosphäre bei, die bei Arvo Pärt oft mit minimalen Mitteln gewoben wird: Dreiklänge, kleinste tonale Figuren, Liegetöne, dazu große »Entfernungen« zwischen Subbaß und extrem hohen Sopranen. Ob gesungen oder gespielt – das Verweilen ist bei Pärt wesentlich. Genau darin liegt oft eine Crux, weiß jeder, der es einmal selbst probiert oder ein Scheitern miterlebt hat. Wenn es gelingt, baut sich eine ungeheure homogene Spannung auf, wenn Texte verlangsamt werden, Worte oder Silben praktisch zum Stillstand kommen und sich nicht mehr mit der Aussage des Inhalts, sondern durch den Klang mitteilen.

Konzert des Estnischen Philharmonischen Kammerchores in der Martin-Luther-Kirche Dresden, Photo: Dresdner Musikfestspiele, © Oliver Killig

Diese Größe und Spannung war geradezu ungeheuer, auch deshalb, weil der Chor auf der Empore unter der Orgel mit enormer Kraft zu singen vermochte – das hätte man vermutlich frontal (aus dem Altarraum) gar nicht erleben wollen! Diese Homogenität und Reinheit war schon bestechend! Der zweite Konzertteil enthielt mit »Drei Hirtenkinder aus Fátima« und einem »Vaterunser« außerdem deutsche Texte, die in der Aussprache an Präzision, Klang oder Betonung nichts missen ließen.

Tõnu Kaljuste hat den Estnischen Philharmonischen Kammerchor vor über vierzig Jahren gegründet, Photo: Dresdner Musikfestspiele, © Oliver Killig

Dennoch ergab sich – ein wenig verblüffend – aus allzuviel schwebender Musik eine fast drückende Schwere. Vor allem im ersten Teil, bei dem ähnliche Musik fast ohne Modulation oder Variation Stück auf Stück folgte, bald eine Stunde »esoterisches Schwimmen« – das strengte an! Es sei denn, man konnte loslassen und sich ganz dem Klang hingeben, nur: da war ja ein Text. Eine Messe, und weshalb zwischen deren Sätze andere Werke gesetzt wurden, erschloß sich nicht (auch wenn es inhaltlich-liturgische Anknüpfungspunkte gab). Die an sich gute Idee, den hinten oben stehenden Chor via Videoleinwand ins Kirchenschiff zu projizieren, erwies sich als nicht nur glücklich. Zu viel Schnitte, zu viel Unruhe, zudem war die Kameraführung mitunter wirr. Warum dann nicht ein Standbild statt ständigen Wechselns? Weshalb ein Bild der Orgelpfeifen, während der Chor expressive Ausdrucksformen fand?

Videoübertragung in den Altarraum, Photo: Dresdner Musikfestspiele, © Oliver Killig

Nach der Pause standen verschiedene einzelne Werke, wiederum geistliche, auf dem Programm (von der CD »Tractus«). Nun gelang die Mischung besser, lebhafter, farbiger. Die anfangs vermißten Impulse kamen, trotzdem aber minimal und reduziert. Für einige der Chorsänger gab es beeindruckende Soli, die ihrerseits – so wie die Stimmen aus dem Chor kamen – für die baltische Chortradition standen. Aber warum bekam Kadri Toomoja, die als Konzertorganistin nicht nur Meisterkurse bei Ton Koopman besucht, sondern mit namhaften Chören und Sinfonieorchestern gearbeitet hat (unter anderem mit Paavo Järvi), keine Gelegenheit für einen instrumentalen Ausgleich und Farbtupfer? Trotz der größeren Abwechslung im zweiten Teil war das Konzert doch von einem Gleichmaß beherrscht, das selbst die viel geliebte Musik von Arvo Pärt ein wenig entzauberte. Da schienen kleine Irritationen beinahe typisch, als der Chor zum Beispiel vor dem letzten Stück plötzlich die Empore verließ. War schon Schluß? Nein, das abschließende »Vaterunser«, ursprünglich für Knabenchor und Klavier geschrieben, sollte aus dem Altarraum erklingen – mit einem e-Piano begleitet! Daß Arvo Pärt nicht das ganze Vaterunser, sondern nur den ersten Teil vertont und die Schlußzeilen weggelassen hat, überraschte noch einmal.

20. Mai 2025, Wolfram Quellmalz

CD-Tips mit Musik von Arvo Pärt:
»Lente« mit der »Berliner Messe«, »Stabat Mater«, »Lente« und anderen Werken, Eesti Filharmoonia Kammerkoor, Concerto Copenhagen, Tönu Kaljuste, erschienen bei Berlin Classics
»Tractus« mit »Littlemore Tractus«, »Greater Antiphons«, »Cantique des degres«, »Sequentia«, »These Words«, »Veni Creator«, »Vater unser« und anderen Werken, Eesti Filharmoonia Kammerkoor, Tallinna Kammerorkester, Tönu Kaljuste, erschienen bei ECM

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