Semperoper zeigt Händels »Saul« als Oratorium in Bildern
Anders als sein Altersgenosse Johann Sebastian Bach schrieb Georg Friedrich Händel seine Oratorien nicht für einen Gottesdienst, sondern fürs Theater. Als der Glanz der italienischen Oper in London verblaßte und Händel – wie konkurrierende Opernunternehmer – nach neuen Formen und Stoffen suchte, fand er über Masques (opernhafte Maskenspiele), zu denen bereits »Acis and Galatea« zählte, zum Oratorium. »Deborah« war einer seiner frühen Erfolge, an die Händel bald anknüpfen konnte. Oft lieferten biblische Stoffe die Grundlage der englisch gesungenen Werke. Als »Saul« 1739 uraufgeführt wurde, war die Oper der Händelzeit durch das Oratorium abgelöst worden.
Die Musik trägt bei »Saul« wie in anderen Oratorien und bedarf keiner Inszenierung. Trotzdem hat es immer wieder Versuche dazu gegeben, auch zu Choreographien. Das liegt bei einem Handlungsoratorien natürlich nahe, außerdem wurde »Saul« für das King’s Theatre am Haymarket geschrieben und eben nicht für einen Kirchenraum. Dennoch steht ein Inszenierungsteam vor Herausforderungen, denn Händels Musik ist keineswegs übermäßig affektiv. Die Emotionen der handelnden Figuren werden meist nicht herausgestellt.

Regisseur Claus Guth, für den »Saul« (Produktion mit dem Musik Theater an der Wien von 2018) an der Dresdner Semperoper bereits die vierte Inszenierung eines Oratoriums von Georg Friedrich Händel ist, hat sich entschlossen, die »Lücke« zwischen äußerer Handlung und innerem Befinden zu belassen und geht in seiner Betrachtung sozusagen auf Distance. Auf seiner Drehbühne (Bühne und Kostüme: Christian Schmidt) vollziehen sich Abläufe, die sacht bebildert werden. Teils durch die agierenden Personen selbst, die noch, wenn sie szenisch abwesend oder tot sind, anwesend bleiben, anderen Figuren zuhören oder sich in Zeitlupe bewegen, um eine Handlung im Hintergrund zu illustrieren. Oft entstehen bildhafte Kommentare zu Text und Geschehen, wenn zum Beispiel Saul mit einem Messer übt, als er seinen Widersacher oder Feind töten will.

Doch wer ist der Feind? Sind es die Philister, gegen die Saul als König der Israeliten kämpft? Oder ist es der junge Hirte David, der sein Nachfolger werden könnte, dem Saul erst die eine Tochter (Merab) geben möchte, um ihn später mit der anderen (Michal) zu verheiraten? Sitzt der Feind in der Familie, am gemeinsamen Tisch? Und wie ist es zu bewerten, wenn sich alle vom Strahlen des jungen Helden David beeindrucken lassen, daß sie wie von Sinnen sind? Heißt das, daß David ein »Blender«, also schlecht ist, oder deutet es nicht vielmehr an, daß die lange und glorreiche Herrschaft Sauls zu Ende geht, daß sich Unzufriedenheit, Unfrieden einschleichen?
Claus Guth und sein Team bringen einen beständigen Kommentar auf die Bühne, aber nicht einen mit erhobenem Zeigefinger oder einen von einer moralischen Instanz weit außerhalb, sie verknüpfen die »inneren Fäden« zwischen den Personen, greifen die Familienbande auf, bringen Ursache und Folge zur Wirkung (oder stellen sie in Frage). Dabei passiert verhältnismäßig wenig, eben gerade, weil »Saul« nicht emotional ist. Die Drehbühne mit vier Seitenflächen schafft vier Räume, die nur marginal verändert werden (was aber entscheidend sein kann). Drehbewegungen beginnen oft vor dem Szenenende, die Akteure wechseln zwischen Bildern, um szenisch in Aktion zu bleiben oder für illustrative Kommentare. Bewegungsabläufe in Zeitlupe (Choreographie: Ramses Sigl) kehren dabei immer wieder. Gerade diese unterschwelligen Reize sorgen dafür, das Bild zu verdichten.

Zunächst scheint das gar nicht so zu »packen«. Am Premierenabend gibt es keinen Szenen-oder Arienapplaus, nach den ersten Akten braucht das Publikum jeweils Zeit, bis Beifall aufkommt, doch am Ende ist er um so zustimmender.
Claus Guths Konzept geht auf, kommt an, erfaßt nach und nach, ohne dem musikalischen Geschehen zu widersprechen. Und dieses ist vom feinsten. Leo Hussain leitet vom Cembalo aus die Gruppe der Sächsischen Staatskapelle und das Continuo, läßt schon in der Sinfonia mit Orgel (Sophie Fournier) Händel-Stimmung aufkommen. Die Staatskapelle und ihre Erweiterung bleibt in den Stimmen ausgewogen und fein, läßt auch einmal das Violoncello (Norbert Anger) kantabel hervortreten.

Weniger Emotion, dafür eine bestechende Präzision ist es, die beeindruckt, vom fabelhaften Chor (Jan Hoffmann) bis zu den Solisten. Florian Boesch zeigt als Saul, das es weniger um Gut oder Böse geht, nicht um einen Wandel vom einen zum anderen – der König Saul ist auch nur ein Geworfener, dem die Sinne durch Krankheit oder Erschütterung schwinden, verunsichert werden, und er ist austauschbar – der kernige Bariton und der strahlende Counter von David (Jake Arditti) – sind sie Gegner oder Nachfolger? Oder sind beide austauschbar? Boeschs Bariton klingt ebenso gefestigt machtvoll, wie er den Abgründen nah scheint. Und Arditti kann der glänzenden Höhe manche fast krankhaft virile Nuance hinzufügen.

Das sparsame Spiel schafft, was die Musik an vorenthaltenen Emotionen dem Kopf überläßt darzustellen: Kippmomente, Unsicherheit, Veränderungen. Wenn die drei Geschwister Merab (Jasmin Delfs), Michal (Mary Bevan) und Jonathan (James Ley) zum Beispiel dem betörenden David zu verfallen scheinen. Die klare Zuordnung von Personen oder Wertung bricht Claus Guth immer wieder auf. So spielt Countertenor Jake Ingbar, dessen Auftritt als Hexe (Witch of Endor) im dritten Akt liegt, auch die stumme Bedienstete im Hause Sauls. David und Michal (»Flieh, fort, denn der Tod ist nahe!«) wachsen, in quasi gleicher Stimmlage, für einen Moment zu einem einig verbundenen Paar. Kurz darauf stehen sich Saul und der Prophet Samuel in Florian Boesch gegenüber wie Jekyll und Hyde.

Michal und vor allem Merab sorgen mit ihren berührenden Monologen (Merab: »wandle seinen Zorn in sanfte Sprache«) für die größten Momente. Ob ihre Bitte erhört wird? (Von wem?) Oder bleibt es am Ende dabei, nur einen Namen auszutauschen, aus »Saul« »David« werden zu lassen? Die biblische Geschichte bleibt klar der Hintergrund, aber Claus Guth erzählt auf der Bühne eine individuelle Geschichte um die Last des Königtums und letztlich ein Familiendrama, das zum Andenken anregt und zum noch einmal Ansehen einlädt.
2. Juni 2025, Wolfram Quellmalz
Georg Friedrich Händel »Saul«, Semperoper, noch sechsmal bis Spielzeitende sowie wieder ab Ende August