Daniele Gatti schlägt mit Mahlers dritter Sinfonie bei der Sächsischen Staatskapelle einen weiten Bogen
Solche Erhabenheit, Fülle, Unmenge, Wucht kann fast schon erdrückend sein, gerade an einem Sonntagmorgen. Aber wer einen Zyklus sämtlicher Mahler-Sinfonien aufführen will, löst gleich mehrere solcher Erhabenheitsmomente aus. Im Fall von Daniele Gatti und der Sächsischen Staatskapelle gewährte dies Einblicke in innere Strukturen, ohne das wesentliche zu vernachlässigen. Zur Sonntagsmatinée in der Semperoper stellten sich Erkenntnisse und Erlebnisse ein, die sowohl im Detail überzeugten wie einen großen Bogen der Spannung bewahrten.
Womit sich (erneut) Fragen stellten: Warum mußte Gustav Mahler solch kolossale Gebilde schaffen, gebären, herauswürgen, solche Genrepasticcios zwischen Sinfonie, Kammermusik und Lied? Kannte oder konnte er kein »geradeaus«? Offenbar nicht – um so sorgsamer müssen seine Werke daher jedes Mal neu geschöpft werden. Daniele Gatti näherte sich der Dritten mit Sorgfalt und Gelassenheit, begnügte sich weder mit den im Programmheft angegebenen 90 noch mit den gängigen 100 Minuten, sondern brauchte satte 110 – fast zwei Stunden (pausenlos) Mahler! Das Zeitmaß jedoch fiel nicht auf, zumindest nicht in der Art, daß der Dirigent es an ausgewählten Stellen übermäßig gedehnt hätte. Mahler? Ja, aber ohne Weihe!

Das lenkte die Aufmerksamkeit auf innere Bezüge und den Text, nebenher bewahrheitete sich manche überlieferte Aussage. Der Anfang zum Beispiel brach über die Blechbläser und Streicher als Marsch herein – so in etwa hätte es auch von Schostakowitsch stammen können. Dieser soll ja immer betont haben, wie wichtig Mahler für ihn gewesen sei. Freilich ließen Mahler respektive Gatti den Marsch nicht wirklich ausschreiten, denn mit Schlagwerk und Bläsersoli stellte sich jene unverwechselbare Wunderhornharmonik ein, die – lange, bevor es eintritt – ein Lied ankündigt.
Tragisch klang das zunächst; wachsend, aber harmonisch wunderbar abgleitend (Hörner) mit Tremoli – Daniele Gatti machte die Unruhe deutlich, die schon in der vermeintlichen Ruhe des ersten Satzes schlummerte. Kontrabässe und flirrende Violen schufen vorübergehend einen Hoffnungsschimmer, mit den Klarinetten hielt ein kecker Frohsinn Einzug, aber janusköpfig lugte ihm schon die Tragik über die Schulter, da schien auch der Klarinette die kecke Lust auszugehen und sie klagte, vom Echo der Oboe begleitet. Das Lied, nun in die Kontrabässe »gerutscht«, wurde dennoch froher, die Klarinetten wieder keck, der sehr ferne Schimmer der Trompeten glänzte – eigentlich ein schöner Schluß, Mahler hätte es glatt bei diesem einen Satz belassen können!

Hat er aber nicht. Und Daniele Gatti schlug im gleichen Buch der Sinfonie ein neues Kapitel auf, ein kammermusikalisches Menuett, das luftig und fast mit »Wiener Schlendrian« zwischen Violen, Celli und Harfe pendelte, um am Beginn des dritten Satzes in Sachen Leichtigkeit (nicht Leichtfertigkeit) sogar noch übertroffen zu werden. Wie weit Daniele Gatti dies ausdifferenziert, zeigte sich in den Posthornpassagen: Helmut Fuchs spielt weder seitlich noch vom oberen Rang, sondern weit hinter der Bühne, in größtmöglicher Ferne, die von der Sächsischen Staatskapelle aber mit feinsten Pianissimi (vor allem Violinen) geschlossen wurde. Sinfonie und Kammermusik wurden um den Charakter einer Serenade ergänzt.
Dabei folgten die wesentlichsten Sätze erst noch (auch die hätte Mahler doch für sich stehen lassen können!). Mit Michèle Losier entsteht im »Nachtwandler-Lied« nicht nur Nacht- sondern Dämmerungsstimmung, von der Altistin mit erst schleppendem Text, dann wohlgesetzten Betonungen beschworen und von den Blechbläsern zärtlich ausgeschimmert. Der frohe Ton des fünften Satzes mit den Damen des Sächsischen Staatsopernchores (Einstudierung: Jan Hoffmann) und dem Kinderchor der Semperoper (Claudia Sebastian-Bertsch) verkündete jedoch nicht die Pfingstbotschaft, sondern gestand, wie sich Leidenschaft und das zehnte Gebot nicht vereinen ließen. Im vielleicht feierlichsten Moment der Sinfonie verhindert so der Inhalt jede Weihe.
Wen wunderte es da, daß der Abschluß im Gestus eines Adagietto bereits die sechste Sinfonie ahnen ließ? Noch war Mahler nicht soweit, er ließ die Ruhe bis in einen Schlußchoral wachsen, der in den Blechbläsern kurz wackelte, sich aber mit Freude (oder Liebe, wenn Mahler es so wollte) auflöste.
8. Juni 2025, Wolfram Quellmalz