Bachfest Leipzig feiert Sir John Eliot Gardiner
Eigentlich konnte man sich Sir John Eliot Gardiner ohne den Monteverdi Choir genauso wenig denken wie umgekehrt. Im vergangenen Jahr jedoch gab der Dirigent die Leitung seines 1964 (!) gegründeten Chores ab. Auslöser war ein Fehlverhalten seinerseits gewesen, das nicht nur in sozialen Medien ein enormes negatives Echo hervorgerufen hatte. Vielen ging die andauernde Verurteilung Gardiners allerdings zu weit. Vor allem Weggefährten verwiesen auf die Erfahrungen gemeinsamer Projekte und fragten, ob darin kein Wert zu finden sei, der Fehler entschuldigen, wiedergutmachen, das Verurteilen beenden könne.
Der Ausweg lag – wie so oft – in der Auseinandersetzung, im aufeinander zugehen. Das Ruhejahr des Rückzugs hat Sir John Eliot Gardiner nicht ungenutzt gelassen und ist mittlerweile mit einem neuen Ensemble, The Constellation Choir & Orchestra, auf den Konzertbühnen unterwegs. Manchmal streifen seine Termine pikanterweise jene des Monteverdi Choir …
Am letzten Wochenende waren The Constellation Choir & Orchestra beim Bachfest Leipzig zu Gast. Viele Mitglieder stammen aus früheren Ensembles und kennen Gardiner seit langem, schenken ihm weiterhin ihr Vertrauen – was in Leipzig mit fast himmlischen Eindrücken belohnt wurde.

In der Besetzung fielen drei Namen auf, die wir aus Dresden kennen: Anne Schumann (unter anderem Ensemble Fürsten-Musik) spielte in den ersten Violinen, nachdem sie tags zuvor bereits Konzertmeisterin im ersten der Kantaten-Programme gewesen war. Fagottistin György Farkas ist regelmäßig in gleicher Funktion mit dem Collegium 1704 in der Annenkirche zu Gast, und Thomas Dunford hatten wir eben erst in einem hinreißenden Liederabend mit Lea Desandre bei den Dresdner Musikfestspielen erlebt [NMB berichteten: https://neuemusikalischeblaetter.com/2025/06/17/grade-der-anmut/%5D. Jetzt perlte seine Laute aus dem Basso continuo.
Was war so schön, was gab es zu feiern bei diesem Bach-Fest? Am Sonnabend standen in der Thomaskirche ausschließlich Kantaten auf dem Programm, die sich mit Tod und Sterben auseinandersetzen! Mehr noch als in manchen für Traueranlässe geschriebenen Werken ist damit der Punkt der Vollendung im christlichen Verständnis gemeint. Und so beginnt die Kantate »Liebster Gott, wenn wird‘ ich sterben« (BWV 8.1) mit einer himmlisch schwebenden Einleitung des titelgebenden Chorals, der in der Thomaskirche von der Orgelempore um so mehr schwebte und noch vor dem ersten Wort vom weichen Stakkato der Blockflöten geschmeichelt wurde. Der Chor sollte mit seinem sanften, aber stetig gut verständlichen Piano ohnehin zu den großen Vorzügen dieses Konzertabends gehören. So lieblich und süß – wer mochte da an den Tod denken?

Doch Bach wollte es genau so dargestellt haben: mit froher Hoffnung sich dem letzten Ende hingeben, wozu er auch den Solisten die rechten Worte in den Mund gelegt hat. Hier überbot Sir John Eliot Gardiner sämtliche Erwartungen: Mit Alexander Chance stand ein schon spektakulärer Altus zur Verfügung, der die Wärme eines echten Alt mit einer kraftvollen Tiefe verband und mit jeder Silbe verständlich war. Allein mit der Gestaltung eines Tons, wenn er zum Beispiel »des Löwen« (Kantate »Komm, du süße Todesstunde«, BWV 161) dehnte, konnte er begeistern! Baß Florian Störtz überzeugte mit kernigem Timbre und guter Betonung noch im dynamischer Verlauf. Geradezu überirdisch lichterte Marie Luise Werneburg durch die Kantaten – was hat diese Sopranistin derzeit für ein Niveau erreicht! Als sie im Rezitativ von »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende« (BWV 27) das »Ach« hauchte, da tat sich schon der Himmel auf (wie im Text folgt: »wer doch schon im Himmel wär!«). In den Arien wußte sie das noch zu steigern. Einzig Thomas Hobbs (Tenor) konnte da nicht mithalten, einerseits wegen eines übermäßigen Vibratos und zu großer dynamischer Sprünge, andererseits blieb seine Verständlichkeit, vor allem wegen undeutlicher Konsonanten, zurück. Allerdings mit der Ausnahme in der Kantate »Christus, der ist mein Leben« (BWV 95) am Ende des Abends und dort in der Arie »Ach, schlage doch bald, sel‘ge Stunde«, die merklich sicherer und verständlicher gelang.

Der »Gardiner-Effekt« lag sicherlich darin, wie er mit den »Komponenten« lebhafte, emphatisch ausgeleuchtete musikalische Andachten entstehen ließ, was in der Abstimmung und Folge der Solisten lag, aber nicht weniger im Wechselspiel mit dem Chor und dem Orchester. »Komm, du süße Todesstunde« beginnt zum Beispiel mit einer Arie, die von Choralzeilen (»Herzlich tut mich verlangen«) ergänzt wird. Schon hier gab es einen Gänsehautmoment, der am Schluß, als der richtige Choral folgte (»Der Leib zwar in der Erden« auf die Melodie »Oh Haupt voll Blut und Wunden«), noch einmal bestätigt wurde.
Auch die Instrumentalisten, wiewohl hier ohne explizite Soli mit großer Auszierung und trotz eines schwierig zu spielenden Horns mit Zug (wie bei der Posaune) gestalteten konzertierend und im Basso continuo diesen großartigen Eindruck mit. Den manchmal fast feurigen Charakter, den John Eliot Gardiner seinem Chor abgewann, ließ er ebenso im Orchester frei – langer, nicht versöhnlicher, sondern herzlicher Applaus war das verdiente Ergebnis.
15. Juni 2025, Wolfram Quellmalz