Bayreuths legendärer »Lohengrin« hat sich mit Christian Thielemann verabschiedet
Bei so einem Stück, so einer Inszenierung, gerät man schon ins Schwärmen und fragt sich, ob man das überhaupt absetzen kann. Immer noch reden alle vom »Jahrhundert-Ring« von Patrice Chéreau – allerdings nicht zuletzt, weil manche »Ringe« seither so mißlungen sind. Müßte man also nicht von einem »Jahrhundert-Lohengrin« von Yuval Sharon bei den Bayreuther Festspielen sprechen? Er schafft im Bühnenbild und den Kostümen von Rosa Loy und Neo Rauch eine märchenhafte Atmosphäre, die trotz ihrer dominierenden Farben – Lohengrins Welt ist blau mit einigen wenigen Akzenten in komplementärem Orange – nicht eintönig gerät. Und obwohl gerade diese Farb- und Bilderwelt so überwältigend ist, daß viele dabei den Regisseur vergessen, so sei gerade angesichts mancher erlebter Mißgriffe auf den Opernbühnen der Welt (jeder Leser möge sich der eigenen Erfahrungen bedienen) daran erinnert, daß die Dekoration eben nicht alles ist. Abläufe müssen punktgenau stimmen, wenn zum Beispiel Personen auftreten oder auftauchen, plötzlich verschwinden, auch brauchen die Figuren Spielraum und Entfaltungsmöglichkeit.

Den hat Yuval Sharon offenbar gewährt. Die Figur der Elsa übernahmen in den 21 Aufführungen der vier Jahrgänge vier höchst unterschiedliche Sopranistinnen: Auf Anja Harteros folgten Annette Dasch und Camilla Nylund, zur überraschenden Wiederaufnahme in diesem Jahr nach dem bereits einmal verkündeten »Lohengrin«-Ende 2022 kam Elza van den Heever ins Spiel. Auch Ortrud und Friedrich von Telramund erfuhren über die Jahre mehrfach Wandlungen in der Besetzung, nur König Heinrich und Lohengrin blieben recht konstant: den ersteren hatte Georg Zeppenfeld für die ersten drei Serien übernommen, erst jetzt war Mika Kares in die Rolle geschlüpft. Als Lohengrin wechselten sich recht stabil Piotr Beczala und Klaus Florian Vogt ab. Eigentlich hatte der polnische Tenor den edlen Ritter in diesem Jahr allein übernehmen sollen, doch für die letzte Vorstellung mußte er kurzfristig absagen – wie gut, daß Klaus Florian Vogt seit einigen Jahren in Bayreuth wohnt und schnell zur Stelle war.

Am vergangenen Sonnabend war also die letzte Vorstellung des sagenhaften »Lohengrin«. Nicht zu vergessen: am Pult stand Christian Thielemann. Für alle anderen Vorstellungen der Bayreuther Festspiele konnte man noch Karten bekommen, »Lohengrin« war unmittelbar nach Beginn des Vorverkaufs ausgebucht. Noch in der ersten Pause standen Besucher mit Schildern »Suche Karte« auf dem Festspielgelände.
Drinnen im Festspielhaus hatte sich bereits jene sagenhafte Atmosphäre entfaltet, die Christian Thielemann aus Worten und Klängen formt und aus den feinsten Piani hebt, wie schon im ersten Vorspiel. Da hatte sich mancher Besucher noch nicht beruhigt und wurde angezischt – Wagnerianer sind unerbittlich, verständlich: man würde ja etwas verpassen. Diese unvergleichliche Synthese zum Beispiel, wenn sich Bühnenbild, Musik und Szene unmerklich ändern, bedrohlich werden, »kippen«, die Richtung ändern. Der zweite Aufzug war mit Sicherheit das beste Beispiel dafür.

Elsa wird gleich mehrfach verführt: nicht nur in der Liebe, es geht um nicht weniger als Macht und Manipulation. Ortrud umschmeichelt sie erst, sucht einen Weg in ihre Gedanken, zum Herzen, um sie dann aufzuwiegeln gegen Lohengrin. Aber sind Lohengrin selbst und das Volk denn so »rein«? Sie folgen Führer und König, aber als die Blumenmädchen Blüten für die Hochzeit streuen, sieht man, daß ihre Hände gebunden sind. Und auch Lohengrin – ist der Retter vom Gral nicht vollkommen weltfremd? Er mag meinen, Elsa zu lieben, aber sieht er sich letztlich nicht einfach am Ziel seiner Träume, ohne die Frau, die er heiraten will, wirklich zu kennen?
Bei diesem »Lohengrin« wog jede Note, jedes Wort. Mika Kares, ein Hüne von Mann, gab im Interview auf BR Klassik zu, daß er Christian Thielemanns Wissen und seine Versessenheit auf Perfektion bewundere, er aber manchmal »ein bißchen Angst vor ihm habe«.

Davon war in der Vorstellung nichts zu spüren, vielmehr Ruhe und Kraft und eine glasklare Diktion. Klaus Florian Vogt hat sich in den Lohengrin-Jahren, die ja von der Pandemie unterbrochen wurden, stimmlich verändert, ist gereift, was ihm noch mehr zugute kam – er genoß den riesigen Jubel seines Publikums sichtbar. Auch Elza van den Heever zeichnete ihre Rolle mit großer Verve nach – stimmlich dramatisch ähnlich wie Anja Harteros, überzeugte sie gerade in ihrer emotionalen Auslegung. Die unschuldig angeklagte Elsa (auch sie wird im Brautgemach gebunden!) fragt sich völlig nachvollziehbar, was mit ihr geschieht. Gerade das fasziniert an diesem »Lohengrin« so – die Ambivalenz. Denn die Grenze von Gut und Böse wird bei fast allen verwischt und stellt statt dessen die Frage nach Verantwortung. Miina-Liisa Väreläs Ortrud ist nicht allein ein giftiges Weib, sondern ebenso verführerisch – auf Friedrich (Olafur Sigurdarson) ebenso wie auf Elsa wirkend. Und ist ihr Wunsch, in der Brabanter Gesellschaft etwas zu ändern, so falsch? Da mögen die Vasallen wie der Heerrufer (Michael Kupfer-Radecky) noch so kernig tönen – hier stimmt etwas nicht!

Änderungen gab es auch beim Chor, der neu formiert und verkleinert wurde, Thomas Eitler-de Lint folgte als Chordirektor auf Eberhard Friedrich. Er hielt den Chor auf erstklassigem Niveau, auch wenn die Homogenität manchmal nicht so enorm war wie gewohnt oder sich erst finden mußte (Beginn erster und dritter Aufzug).

Musikalisch stimmte sonst eigentlich alles. Christian Thielemann hob nicht nur Kantilenen der Oboe hervor oder die Alarmzeichen, wenn es um Elsa flötet, er formt das ganze Stück mit sinnlicher Intensität. Als Friedrich feststellt »mein Ruhm und Ehr‘ ist hin!« in seinem Gesang formal einer Arie nahekommt, wurde es vielleicht mit am deutlichsten – bei Wagner gibt es keine losgelösten Arien. Christian Thielemann fing den Satz der Verzweiflung auf und ließ neues entstehen – Ortrud wob längst an ihrem Machtnetz, die Musik nahm es vorweg.
Dabei schien der vierte Jahrgang insgesamt sogar noch verfeinert, die Aufzeichnung der Premiere von 2018 ist also auch hier nur ein bedingter Ersatz. Riesiger Jubel für die Solisten und Christian Thielemann, der am Ende wie immer das ganze Orchester auf die Bühne holte.
10. August 2025, Wolfram Quellmalz
In Kürze: Unsere Rezension zu »Tristan und Isolde« aus Bayreuth.