Sächsische Staatskapelle erreicht bei Saisonbeginn Halbzeit und beginnt mit einer Preisübergabe
Das Scherzo ist im allgemeinen der kürzeste Satz einer Sinfonie, dient der Auflockerung oder Erfrischung. Aber »im allgemeinen« führt schnell ins Abseits oder Mißverständnis – etwas Flexibilität kann man von Konzertbesuchern wohl erwarten. Einfach nur die Reihenfolge von langsamem und schnellem Mittelsatz zu vertauschen, wie Robert Schumann war Gustav Mahler offenbar nicht genug. Daß er sich an der Form oder anderen orientiert habe, wird ebenso kaum jemand unterstellen – in Mahlers fünfter Sinfonie ist das Scherzo mit über einer viertel Stunde der längste Satz und bildet eine eigene »Abteilung« (Definition Mahler).
Das bedarf, beim Hören wie beim Spielen, einer bewußten Annäherung. Chefdirigent Daniele Gatti hat schon in seiner ersten Saison bei der Sächsischen Staatskapelle gezeigt, daß es ihm mit Mahler ernst ist. Das wird nicht nur im Publikum, sondern darüber hinaus wahrgenommen. Es ist schließlich der erste Mahler-Zyklus der Kapelle überhaupt, den der Mailänder in drei Spielzeiten aufführen will. Man staune: die siebente Sinfonie hat das Orchester noch nie gespielt! Deshalb soll er auch festgehalten werden. Zur Spielzeiteröffnung am Sonntag wurde der Sächsischen Staatskapelle Dresden von der Stiftung Semperoper der Rudi-Häussler-Preis übergeben. Die Förderstiftung, vor über 30 Jahren von Rudi Häussler ins Leben gerufen, hat seither über 20 Mio Euro eingeworben und Projekte unterstützt. Um den Mahler-Zyklus nicht nur aufzuführen, sondern aufzuzeichnen, unterstützt sie die Sächsische Staatskapelle daher nicht nur mit dem Preisgeld (10.000 Euro), sondern hat zusätzlich 100.000 Euro für die Aufnahmen bereitgestellt.
Im ersten Sinfoniekonzert der neuen Saison erreichten Daniele Gatti und sein Orchester mit der fünften Sinfonie bereits Halbzeit. Dem sinfonischen Ungetüm gingen fünf Mahler-Lieder sowie Tōru Takemitsus »Requiem« für Streichorchester voraus.
Im feinen Piano-Gespinst erwachte das Requiem des Japaners am Sonntagmorgen, das 80 Jahre nach den Atombombenabwürfen an die Opfer von in Hiroshima und Nagasaki erinnern sollte. Bald schon kam eine fragile Harmonik auf, in die Klage und Wehmut eingebettet waren. Daniele Gatti formte den Klang wie mit einem Chor, getragen, mit motivischen Bögen der Erinnerung. Nur die Viola (Sebastian Herberg) durfte zweimal ihre individuelle Stimme aus diesem Chor erheben, was die Violine (Konzertmeister Matthias Wollong) letztendlich Ende erwiderte.
Da wäre der neckische Ton aus »Blicke mir nicht in die Lieder« im Anschluß wohl verfehlt gewesen – für Gustav Mahlers Rückert-Lieder hatten sich Daniele Gatti und Altistin Marie-Nicole Lemieux für eine andere Reihenfolge entschieden und begannen mit »Liebst du um Schönheit«, das zum Umkehrpunkt wurde. Mit dynamischem Vibrato betonte Lemieux gerade jene Worte, die Liebesobjekte bezeichneten, und sorgte für einen emphatischen Eindruck. So konnte »Blicke mir nicht in die Lieder« nun (an zweiter Stelle) seinen schelmischen Witz entspannt entfalten. Feinfühlig erhob sich »Ich atmet‘ einen linden Duft«, worin das Orchester der Altistin geradezu zärtlich folgte, die Oboe (Bernd Schober) wurde erst Begleiterin, dann Duettpartnerin von Marie-Nicole Lemieux.

Eine ganz besondere intime Stimmung spannten Harfe (Astrid von Brück), Oboe und Klarinette (Wolfram Große) in »Ich bin der Welt abhanden gekommen« auf. Noch ein Abschied, aber anders als bei Takemitsu war es ein Verlieren in sich, ein Loslösen von Welt und Zeit. Marie-Nicole Lemieux gelang gerade diese Zerbrechlichkeit – eine Hoffnungslosigkeit, die doch nicht ganz aufgibt, einen Lichtschein in sich bewahrt. Das Verlorensein von »Um Mitternacht« schien mit seiner Orientierungslosigkeit um so abgründiger. Und doch stürzt niemand ab, denn Mitternacht ist ebenso der Ausgangspunkt für einen neuen Tag, wie es den vorhergehenden abschließt.
Aus einem vergleichbaren musikalischen Kern scheint Mahlers fünfte Sinfonie zu erstehen. Doch auf den Weckruf der Trompete (Helmut Fuchs) folgte kein zuversichtlicher Aufbruch, kein vertrauensvoller – Mahler schritt bald im Trauermarsch voran. Der Frohgemutheit stellte Daniele Gatti einen tragischen Duktus gegenüber, wobei die Balance der Ambivalenz verblüffte. Die Flöte (Sabine Kittel) drängte, nicht aufzugeben -das Beste sollte ja noch kommen: der zweite Satz. »Stürmisch bewegt, mit großer Vehemenz« will es Mahler, Gatti spendierte dazu einen ekstatischen, scharf konturierten Tumult, der in schmelzenden Streichern zerfloß. Wie die Soli der Bläser darin aufgingen, als seien sie Intarsien statt Einwürfe oder übertönende Stimmen, war großartig! Ob es solche Passagen waren, die sich Tschaikowsky als Vorbild und Anregung nahm? Ein Pauken-Piano als Einleitung für die Gruppe der Celli baute neue Spannung auf, die wesentlich zur Tongebung beitrug.

Das unmäßige Scherzo brach aus dieser Ordnung aus, schon wegen seiner Walzeranleihen, manches wog dennoch übermächtig. Das durch die Rezeption übermäßig beanspruchte Adagietto dagegen hielt Daniele Gatti in einem ruhigen, gemächlichen, aber energetischen Fluß. Fast schien es, als begänne danach etwas von vorn – die Sinfonie oder der ganze Zyklus, denn mit dem Rondeau-Finale kehrte eine Offenherzigkeit zurück, wie sie in Mahlers Orchesterliedern und den ersten Sinfonien steckt.
1. September 2025, Wolfram Quellmalz
Nächstes Konzert im Zyklus: 4. Sinfoniekonzert, 14. / 15. / 16. Dezember, Mahler VI sowie »subito con forza« von Kapell-Compositrice Unsuk Chin