Expressives »Heimspiel«

Berliner Philharmoniker eroberten den Dresdner Kulturpalast

Mit dem Besuch der Berliner Philharmoniker im Dresdner Kulturpalast gab es gestern außerhalb der Festspielzeit der Dresdner Musikfestspiele (DMF) einen extra Höhepunkt zu erleben. Auf dem Programm stand unter anderem Johannes Brahms‘ erste Sinfonie. Nun könnte man Kalkül unterstellen, wenn in der ersten Konzerthälfte vor Brahms, der Publikum anzieht wie ein Magnet, dem Auditorium Gegenwartsmusik »zugemutet« wird, was ja (also das »erzwungene Kennenlernen«) vollkommen in Ordnung wäre. Aber genau dieser Gedanke verflog sehr schnell.

Denn das Sonderkonzert der DMF bot in einem der spannendsten Programmpunkte des Abends am Beginn ein Werk von Pascal Dusapin und damit einen schönen Nachklang, denn der Franzose war 2024 / 25 bereits Residenzkomponist bei der Dresdner Philharmonie. Sein Exeo, Solo Nr. 5 für Orchester war damals noch nicht dabei und erklang nun erstmalig. Die Expressivität, die sich dabei einstellte, sollte den Abend prägen und bis zu Brahms anhalten. Dabei »passierte« erstaunlich wenig, außer daß ein Akkord aufgebaut wurde, der sich (scheinbar) wenig veränderte. Dusapin arbeitet mit stehenden Tönen, woraus er aber Klänge formt, die trotz scheinbarer Langsamkeit Spannung und Dynamik enthalten. Was sich auf der Bühne vollzog, glich dem Leben einer Galaxie, die entstand, in zirkulare Bewegung geriet, »Anstöße« gab, zu verlöschen schien – eine stetige Umformung, die auch einmal ganz ohne Bläser verlief, dann aus extremen Tonhöhenunterschieden ihre Spannung bezog.

Sogenannte »Antennen-Galaxien« (NGC 4038 & 4039), Aufnahme des Hubble-Teleskops. Zu sehen sind zwei Spiralgalaxien, bei deren Kollision Milliarden neue Sterne entstehen. Bildquelle: NASA, ESA and the Hubble Heritage Team

Dagegen wirkte Bernd Alois Zimmermanns Konzert für Oboe und kleines Orchester geradezu verstaubt – schließlich ist das Werk bereits 73 Jahre alt! Immer noch modern, aber im Vergleich mit Dusapin verblüffte, wie stark das Stück mittlerweile gealtert ist. Jedoch blies Albrecht Mayer jeden Staub – sollte denn überhaupt ein Flöckchen davon irgendwo gelegen haben – hinweg, denn der »Höllenritt« (Originalton Albrecht Mayer, wohlgemerkt auf das Spielen, nicht das Hören bezogen) führte auf den »Mount Everest« der Oboenliteratur. Im ersten Satz glich die Disputation zwischen Solist und Orchester durchaus einer expressiven (es blieb dabei) Ballettszene à la Strawinsky. Der zweite mit langen Solopassagen, auch Kadenzen, war reich an Effekten (Celesta), offenbarte aber in der Alterung und Rezeption, was daraus entnommen, was andere Komponisten mit der Vorlage gemacht hatten – da schimmerte sogar ein wenig Filmmusik hindurch (»Der weiße Hai«). Vor allem aber beeindruckte die Solostimme, die sich nicht virtuos aufspielte, sondern in vielen Rollen bis hin zum Parlando des Finales auftrat.

Albrecht Mayer (Oboe), Kirill Petrenko (Dirigent) und die Berliner Philharmoniker, Photo: DMF, © Frederike van der Straeten

Wer Albrecht Mayer kennt, weiß, daß er außer Oboe spielen noch zwei Dinge liebt – mit dem Publikum reden und dirigieren. Schließlich gab es noch beides, womit Kirill Petrenko, der eigentliche Dirigent des Abends und Chef der Berliner, für den Moment pausieren sollte. Nach einem Lob für den Saal und einer Liebeserklärung an die Stadt spielte Albrecht Mayer mit den Stimmführern der Streicher, vor allem mit Konzertmeister Noah Bendix-Balgley als Partner, die Sinfonia aus Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 21 (»Ich hatte viel Bekümmernis«). Übrigens war Noah Bendix-Balgley vor nicht einmal zehn Jahren Teilnehmer der Moritzburg Festival Akademie (Jan Vogler, Intendant der DMF, ist auch Leiter des Moritzburg Festivals). Und die Dresdner Philharmonie stellte vor drei Jahren im Film »Tár« im Saal des Dresdner Kulturpalastes »die Berliner« dar, der (im Film) in die Berliner Philharmonie verlegt worden war. Wenn das nicht nach Heimspiel klingt …

Doch ob Heimspiel oder Heimweh – die Hauptsache stand mit Johannes Brahms‘ erster Sinfonie nach der Pause auf dem Programm. Und die überraschte in ihrer – Expressivität. Natürlich können die Berliner Philharmoniker mit einer ganzen Riege erstklassigster Solisten aufwarten, natürlich beherrschen sie alle Stimmen aus dem »Effeff«. Dennoch überraschte der Grad der Klarheit, mit dem Kirill Petrenko das Werk ausleuchtete. Zuweilen konturierte er nicht allein, sondern gab der Form mit scharf gezogenen Linien der Streicher eine regelrechte Kante.

Dank für den Saal, Liebesgrüße an die Stadt: Albrecht Mayer Photo: DMF, © Frederike van der Straeten

Somit erreichten die Berliner im Klang vor allem eine ungemeine Präsenz, auch weil Motive so deutlich leuchteten, von weit hinten durchs Orchester drangen. War Brahms sinfonisches Ansinnen nicht enger umschlungen, dichter gedacht? Letztlich ist es eine Geschmacksfrage – innig und warm oder klar und deutlich. Die Lesart Petrenkos schien unbestechlich bis in den letzten Satz, in dem sich Bläser und Streicher nicht eng umschlossen, sondern sich die Soli deutlich über dem sinfonischen Streicherteppich abhoben. Nicht zuletzt eröffnet dies neue Höreindrücke, zum Beispiel in der Übergabe oder Umkehr von Motiven, aber auch in den Instrumenten bis hin zum betörenden Brummen des Kontrafagotts und dem punktgenau verbindenden Paukenschlag.

Das Publikum feierte die Berliner Philharmoniker frenetisch – eigentlich schade, daß sie keine Orchesterzugabe gespielt haben!

21. September 2025, Wolfram Quellmalz

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