Sir Antonio Pappano und Víkingur Ólafsson im Prager Rudolfinum
Natürlich unterhält die Tschechische Philharmonie (Česká filharmonie) eine ganz normale Reihe von Sinfoniekonzerten im klassischen Format – Ouvertüren- und Konzertstück sowie eine Sinfonie sind regelmäßig im Prager Rudolfinum und an anderen Orten zu erleben. Doch manchmal weicht das Orchester wie andere vom gewohnten Format ab. Wohl weniger um des Abweichens Willens als um die Möglichkeit zu schaffen, besondere Werke und besondere Solisten zu präsentieren. In dieser Woche waren Dirigent Sir Antonio Pappano und Pianist Víkingur Ólafsson im Rudolfinum zu Gast und sorgten für eine höchst ungewöhnliche Kombination: Auf Luigi Dallapiccolas Oper »Il prigioniero« (Der Gefangene, konzertante und tschechische Erstaufführung) folgte Ludwig van Beethovens fünftes Klavierkonzert.

»Il prigioniero« entstand unter den Eindrücken des Zweiten Weltkrieges. Zwar liegt dem Text eine Romanvorlage (Auguste de Villiers de L’Isle-Adams »La légende d’Ulenspiegel et de Lamme Goedzak« / »Die Legende und die heldenhaften, fröhlichen und ruhmreichen Abenteuer von Ulenspiegel und Lamme Goedzak«) zugrunde, jedoch finden sich darin keine lustigen Eulenspiegeleien. Erzählt wird die Geschichte eines von der Inquisition Gefangenen, dessen Mutter und eines Kerkermeisters. Die Mutter wartet darauf, ihren Sohn besuchen zu können, doch eine innere Stimme sagt ihr, daß sie ihn das letzte Mal sehen wird. Durch eine Nachlässigkeit des Kerkermeisters kann der Gefangen zwar aus seiner Zelle entkommen, doch seine Flucht endet jäh in den Armen des Großinquisitors – der Gefangene wird zum Scheiterhaufen geführt.

Die aus einem Prolog und einem Akt bestehende Oper war natürlich kein leichter Einstieg in den Konzertabend am Donnerstag. Ángeles Blancas Gulín bestritt den Prolog mit einem Monolog der Mutter über weite Strecken allein, mit klarer, fast harter Stimme machte sie die Verzweiflung deutlich. Der Komponist läßt das Orchester diesem Gestus folgen, so daß eine unmittelbare Stimmung entstand. Dahinein schlüpfte Brian Mulligan als Gefangener, der über einen wunderbar warm timbrierten Bariton verfügt – der Sohn ist eben nicht nur verzweifelt, er hat noch Hoffnung, will die Mutter beruhigen, findet in der offenen Zellentür ein verführerisches (falsches) Licht – die Darstellung unterschiedlicher Seelenzustände gelang Brian Mulligan großartig! Womit er seine beiden Solistenpartner ein wenig in den Hintergrund drängte, auch wenn Valentyn Dytiuk, der den Kerkermeister und den Großinquisitor sang (im Libretto so vorgesehen) über eine ausgesprochen schöne Tenorstimme verfügt. Zudem deutete Brian Mulligan mit kleinen Gesten das Spiel an, welches die konzertante Aufführung eigentlich versagt.
Eigentlich schade, daß das Werk ganz ohne Spiel und Requisiten stattfand – es wäre sonst noch eingängiger geworden, zumal der Prager Philharmonischer Chor (Pražský filharmonický sbor, Einstudierung: Simon Halsey) nicht nur an der Stimmung beteiligt war und mit dem Klang der Orgel verschmolz, er stellte auch zwei ebenfalls sehr gute Solisten (zwei Priester). Sir Antonio Pappano hatte außerdem Trompeten und Posaune auf der Chorempore platziert, was den Eindruck verstärkte.

Nach der niederschmetternden Dunkelheit der Inquisition folgte nach der Pause die Erhabenheit eines Kaisers: Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Opus 73, Es-Dur mit dem Beinamen »Emperor«. Doch allein heroisch ließ es Antonio Pappano nicht tönen. Vielmehr blieb er dabei – wie schon bei Dallapiccola – das Orchester fein zu balancieren. Damit hob er nicht nur dialogische Szenen heraus, an denen der Solist gar nicht beteiligt war, er verschob auch immer wieder die Schwerpunktlage.

Das war schon zu Beginn zu spüren, nachdem Víkingur Ólafsson – der sich auf Pappanos Balancespiel einließ – dem Orchester mit sattem Akkord antwortete. Denn so satt, erhaben oder betont kräftig ging es nicht weiter, vielmehr hob Antonio Pappano den wippenden Dialog zwischen Violinen und Holzbläser hervor. Víkingur Ólafsson nahm den Faden auf und bot im Solopart auch den Moment einer Entschleunigung, um danach in die Dialoge mit den Bläsern einzustimmen. Antonio Pappano nahm das Orchester immer wieder zurück, formte leisere Begleitpassagen. Das gipfelte im Mittelsatz, einer Streicherserenade mit Klavier, die vielleicht der Höhepunkt war. Ein Streicheln der Seele, auf dem das Fagott kurz stehenbleibt, bevor der rauschende Schlußsatz, fröhlich und heiter folgte. Víkingur Ólafsson wies darauf hin, daß dies das seiner Meinung nach fröhlichste Werk Beethovens sei, aber auch das einzige Klavierkonzert, das Beethoven nicht selbst uraufführen konnte, weil seine zunehmende Taubheit ihm dies verbot.
Dem brillanten Abschluß ließ Víkingur Ólafsson zwei Zugaben folgen: als Gegenstück zu Beethoven zunächst Johann Sebastian Bachs Allemande aus der Klavierpartita Nr. 6 (BWV 830) und anschließend das Choralvorspiel »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« (BWV 639, arrangiert von Ferruccio Busoni).
28. November 2025, Wolfram Quellmalz