Eine Bitte hätte ich noch

Berührend schöne »La bohème« in der Semperoper

Giacomo Puccinis »La bohème« gehört so zuverlässig ins Weihnachtsprogramm jeden Opernhauses wie Mozarts »Zauberflöte« oder Humperdincks »Hänsel und Gretel«. Im Gegensatz zu den letztgenannten hat »La bohème« sogar einen Weihnachtsbezug in der Handlung, denn die Geschichte von Rodolfo und Mimì beginnt am Weihnachtsabend. Daß alljährliche Aufführungen keine faden Rituale sein müssen, beweist die aktuelle Serie von Puccinis Klassiker an der Semperoper Dresden. Wobei die Inszenierung, von 1983 stammend, selbst zum Klassiker geworden ist. Und das könnte sie noch eine Weile bleiben – das stimmungsvolle Bühnenbild läßt das Publikum einerseits ohne Interpretationshürden (oder -mißverständnisse) in eine originale Szene eintauchen, die im Hintergrund angedeuteten Straßenhäuser von Paris wirken modern-futuristisch. Mittlerweile ist die Inszenierung nach Christine Mielitz in der Ausstattung von Peter Heilein zeitlos geworden.

Das schafft nicht allein eine hervorragende Präsentationsbühne für die Sänger, es verbindet auch zwei wesentliche Merkmale des Stücks: einerseits ist die Geschichte mit wenigen Solisten geradezu ein Kammerspiel, aus dem aber im zweiten Bild der Weihnachtsabend auf einem Pariser Platz zwischen Cafés herausragt – Bohèmiens, Händler, Kinder und sogar Soldaten sorgen für ein geschäftiges Treiben. Allein diese Szene zeigt, wie gut (oder eben nicht) das Stück vorbereitet ist, sei es nun die erste, achte oder (wie am Freitag) die 404. (!) Aufführung. Schließlich häufen sich die Klagen über zu kurze, knappe Probenzeiten an allen Opernhäusern. Großes Lob daher für die Vorbereitung auch durch die beiden Chorleiter Jonathan Becker (Staatsopernchor) und Claudia Sebastian-Bertsch (Kinderchor der Semperoper Dresden)!

Weihnachtsabend auf den Pariser Plätzen, Szene aus »La bohème«, Photo: Sächsische Staatsoper, © Klaus Gigga

Ein anderes großes Lob hat sich der Dirigent der Aufführung, Matteo Beltrami, verdient, der mit Umsicht die Sänger leitete und Freiräume zur Gestaltung ließ – nichts wäre doch ärgerlicher, als wenn ausgerechnet zur weihnachtlichen Vorstellung der Glanz im Orchester fehlen würde oder statt eines Ensembles nur unabhängig voneinander agierende Solisten auf der Bühne stünden!

So aber durfte man sich Puccinis süffiger Musik hingeben, die so schön strahlt und schmachtet – lange, da zeichnete sich schon ab, daß es mit Rodolfo und Mimì kein gutes Ende nehmen werde – klingt seine Musik überirdisch schön. Doch wer sich diesem Genuß hingab, der merkte dennoch, wie die Melodien und Bögen im vierten Bild schließlich doch zu fallen begannen. Mögen manche sagen, Puccini sei im Vergleich zu anderen Kitsch – wen ließ dieses Ende (Mimìs Tod), so absehbar wie plötzlich, kalt?

Wieder an der Ssemperoper: Bekhzod Davronov, Photo: © Kristina Kalinina

Auf Seiten der Solisten war nach seinem bemerkenswerten Hausdebut (Edgardo in »Lucia di Lammermoor«) Bekhzod Davronov mit Spannung erwartet worden, der in dieser Spielzeit sein Rollendebut als Rodolfo feierte. Am Freitag gewann er immer mehr an Sicherheit und Persönlichkeit für den impulsiven, aber vor allem verletzlichen Poeten – in der Balance zwischen herausbrechenden Gefühlen und dem am Ende am Boden zerstörten Liebenden konnte Davronov seine kraftvoll strahlende Stimme zur Gestaltung der Figur nutzen, aber ebenso nuanciert abstufen – nicht nur der äußere Glanz, auch die innere Kraft und Zartheit zählte. Noch ein wenig überragender und mehr bejubelt wurde Isabela Díaz bei ihrem Hausdebut als Mimì. Denn ihr Balanceakt – die Schönheit der Stimme einer todkranken, fiel noch schwieriger aus. Sie meisterte ihn aber mit enormem Einfühlungsvermögen. Mimì war nicht eine sieche, leidende, sondern vor allem bis zum Schluß liebende Frau (wie es Puccinis Musik also nicht mißverständlich darstellt). Ihre Worte »Nur eine Bitte habe ich noch« an Rodolfo, als sie sich trennen, berührte tief, denn es steht am Anfang des Endes (und der Hoffnungslosigkeit für ihre Beziehung).

Großartige Mimì: Isabela Díaz, Photo: © Silvana Robert und Máximo Parpagnoli

Musetta (Rosalia Cid) und Marcello (Sean Michael Plumb) nehmen es nur scheinbar leichter – ihre funkensprühende Eifersucht belebte das Bild nicht nur, es zeigte zudem eine Überlebensstrategie der Bohèmiens. Sean Michael Plumb und vor allem Rosalia Cid waren nicht nur optisch auffällig, sondern stimmlich leuchtende, glutvolle Farbtupfer. Die aber ergänzt wurden, denn in »La bohème« hat jede Rolle ihr Gewicht: das Quartett der Künstler (außerdem Neven Crnić als Schaunard und Alexandros Stavrakakis als Colline) sowie die äußerst pointiert gelungenen Auftritte von des Vermieters Benoît (Hans-Joachim Ketelsen) und von Musettas »brauchbaren Verehrers« Alcindoro (Bernd Zettisch, Alcindoro darf am Weihnachtsabend die Zeche für alle Zahlen) bildete ein konzentriertes, eng verbundenes Kammerspielensemble, das hier und da noch kleine Spitzen aufsetzte. Alexandros Stavrakakis konnte dies nicht nur stimmlich markieren, sondern szenisch mit einem Sprung aufs Klavier auch darstellen – wenn bei »La bohème« neben dem musikalischen der spielerische Wert stimmt, ist es um so schöner!

6. Dezember 2025, Wolfram Quellmalz

Wieder am Freitag: Giacomo Puccini »La bohème«, Semperoper Dresden, mit Matteo Beltrami (Musikalische Leitung), Isabela Díaz, Rosalia Cid, Bekhzod Davronov, Sean Michael Plumb und anderen

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