Jiří Hájíček »Vignetten mit Segelschiff«
Aufbrechen, neue »Ufer« suchen, entdecken, etwas Eigenes aufbauen – wen packt die Entdeckerlust nicht irgendwann einmal? Manchen führt sie an fremde, exotische Gestade, viele zumindest in eine andere Region, beispielsweise, wenn sie vom Land in die Großstadt gehen, weil sie nur dort studieren können, und dann in dieser neuen Umgebung heimisch werden. Nicht selten entstehen dabei unbemerkt Klüfte, zwischen Geschwistern, die in Welten leben, die einander fremd werden. Wer ist »schuld«? Der, der weggeht, die Heimat »verrät«? Oder der, der dableibt, gar nicht erst versucht, (s)einen Traum zu verwirklichen?
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Und weil sie ahnte, womit er loslegen würde, stellte sie sich ganz einfach vor, sie könnte den Ton abstellen, könnte auf der Fernbedienung den Knopf mit dem durchgestrichenen Lautsprecher drücken, wie beim Fernsehen. Milans Gesten und sein Feuereifer waren im Grunde immer dieselben, ob er nun über Filme, die Fakultät oder Politik diskutierte. Die Mimik, die Handbewegungen und wie er sich über den Tisch beugte. Sie kannte ihn seit Jahren. Und stellte den Ton wieder an und zeigte sich geduldig.
»Ich verstehe ja, Marie, dass du jetzt etwas ändern willst in deinem Leben. Das ist ja klar, nach so einem Schock. Aber ich begreife nicht, warum es ausgerechnet das sein muss.«
Zwischen Marie und Veronika scheint so eine Kluft zu bestehen. Eine Kluft mit Brücken, denn es ist keineswegs so, daß die beiden Schwestern nicht miteinander reden würden, sich aus dem Weg gingen. Nur über manches fällt es schwer, sich auszusprechen – Familie. Marie ist die jüngere, aus Veronikas Sicht die verwöhntere Schwester, während sie, »die Große«, immer zu spüren bekam, daß sie kein Sohn ist. Die Eltern werden langsam alt, sind öfter krank, brauchen Unterstützung. Dann ist Veronika da, hilft, jeden Tag, wenn es sein muß. Sie tut es aber auf ihre Weise, nach ihrer Sicht, manchmal, ohne die Eltern zu fragen. Wenn dann die kleine Schwester kommt, die es weit weg als Hochschuldozentin in Prag behaglich hat, und über etwas reden oder es gar ändern will, ist der Konflikt vorprogrammiert.
Er untersuchte das Armaturenbrett, Marie lehnte sich in den Sitz zurück und begann mit leiser Stimme zu erklären, warum sie eigentlich ins Archiv gingen. Wie wichtig Recherchen für die Art von Prosa seien, die Filip zu schreiben beabsichtigte. Er hörte brav zu, das Thema, das Marie ihm vorgeschlagen hatte, interessierte ihn auch. Egon Schiele und Český Krumlov. Eine österreichisch-ungarische Kleinstadt und ein junger Maler und Bohemien, der aus der Wiener Akademie davongelaufen war und mit seinem Modell Wally auf Sommerfrische in den Geburtstort seiner Mutter fuhr.
Konflikte gab es früher schon. Der Haß zwischen den Familien bzw. zwischen dem Vater und dem Nachbarn Hanzal ist schon alt. Generationen alt, wie sich herausstellt, doch worauf er basiert, weshalb er so schlimm ist, daß der Vater Hanzal mit dem Auto gejagt hat – wollte er ihn etwa überfahren? – kann Marie nicht ergründen. Dabei hat sie selbst mit sich zu tun. Siebenundvierzig Jahre alt, frisch geschieden, steht sie an einem Wendepunkt. Und mitten im Leben, wie sich nicht nur an einem Kollegen, der sich in sie verliebt, und einem jungen Buchverkäufer zeigt …
Sie gingen das Förderband entlang, das früher den Sand transportiert hatte, die Stahlkonstruktion rostete vor sich hin, Unkraut und Anflug hatten es über die Jahre eingewuchert. Die Sonne prügelte von oben herab, und das verdorrte Gras raschelte unter den Sandalen. Sie breiteten ihre Handtücher im Schatten unter den Kiefern aus. Etwa zehn weitere Leute waren da. Und der See mit glasklarem Wasser. Der Sand am Ufer war glutheiß und reflektierte das Licht.
Mitunter widerfahren uns Dinge, die wir nicht erfassen oder nicht richtig einordnen. Wir alle sind keine Kriminalkommissare, die ständig damit beschäftigt wären, Verdachtsfälle oder Verbrechen aufzuklären. Im »wahren Leben« gehen manche Ereignisse, auch Fehlritte und Verbrechen, daher unbemerkt verloren, vor allem, wenn sie verschwiegen werden. Jiří Hájíček versteht es, dem Lebensfaden seiner Heldin zu folgen, die zwar erfahren will, was passiert ist, die aber nicht einem großen Geheimnis nachjagt (selbst wenn es eines sein sollte), sondern manchmal einfach stehenbleibt, Zeit braucht, Kraft und Atem zu schöpfen.
2021, Wolfram Quellmalz

Jiří Hájíček »Vignetten mit Segelschiff« (Originaltitel: »Plachetnice na vinětách«, 2020), Roman, aus dem Tschechischen von Kristina Kallert, Karl Rauch, fester Einband, Lesebändchen, 272 Seiten, 22,- €