Die Premiere des neuen »Freischütz« in Rathen mußte wetterbedingt abgebrochen werden, schien aber vielversprechend
Ob es am Datum gelegen hat? Denn die Johannisnacht (von Freitag auf Sonnabend) ist eine der Nächte, die besonders geeignet sein sollen, »Freikugeln« zu gießen. Wollte das »jemand« verhindern? Doch ob Wotan oder schlicht das Wetter – pünktlich zur Ouvertüre von Carl Maria von Webers Oper »Der Freischütz« setzte am Freitagabend auf der Felsenbühne Rathen der Regen ein. Fein und durchdringend – das Publikum hatte sich ob der Prognose vorbereitet, Chor und Solisten in ihren Kostümen dagegen waren den Unbilden ausgeliefert. Eben noch hatte Florian Neubauers Kilian lustig-frech den Widersacher verhöhnt, weil Maxens Schüsse nicht mehr treffen. Dabei müssen sie das ganz dringend! Nur wenn Max beweist, ein guter Schütze zu sein, kann er die Erbförsterei übernehmen und Agatha heiraten.
Doch soweit kam es nicht. Manuel Schöbel, Intendant der Landesbühnen Sachsen und Regisseur des Stücks, unterbrach zunächst und mußte kurz darauf die reguläre Premierenvorstellung absagen. Wenn das Publikum wolle, werde man aber die Agathenszene, für die auf der Bühne das Förstereihaus einen Regenschutz bieten würde, zeigen und vielleicht noch etwas mehr. Das Publikum wollte.

Zwar wurde der Regen dichter und kälter, einige wanderten ab, doch das Gros der Leute blieb und harrte aus. Und wurde belohnt, denn es war schließlich mehr zu erleben, als daß sich alle auf der Bühne nur »Mühe gegeben« hätten. Dabei dürfte es nicht leicht gewesen sein, ohne Vorspiel und szenische Entwicklung Agathes (an diesem Abend Mareike Schröter) Zagen und Ännchens (Franziska Abram) Beraten lebhaft darzustellen. Doch es gelang, musikalisch farbig untermalt von der Elbland Philharmonie Sachsen (Leitung: Hans-Peter Preu), im Försterhaus glomm wohlig der Kamin. Das Stück offenbarte manchen gewollten und ungewollten Witz: Als das Bild des Urgroßvaters Kuno von der Wand stürzte und Agathe versucht, den Nagel neu einzuschlagen, was mißlingt, zieht Mareike Schröter den spontanen Ausruf »Sch… « in die Länge und dehnt ihn in den Originaltext »Schelm, halt fest«. Nicht geplant war dagegen, wie sich andere Zeilen in die Situation fügten. Denn gleich mehrfach spielte Librettist Friedrich Kind auf das Wetter an (»Nur dort in der Berge Ferne, scheint ein Wetter aufzuziehn«), was für Belustigung sorgte. Gleich mehrfach »paßte« das in den wenigen Szenen.

Was aber vor allem paßte, waren die Personenzeichnungen und ein interessanter Interpretationsansatz der »Lage«. Schließlich ist der »Freischütz« nicht irgendein Märchen oder nur eine volkstümliche Sage, sondern greift das Ende des Dreißigjährigen Krieges auf und stellt Fragen zur Gesellschaft. Manuel Schöbel nimmt vor allem die letzteren ins Visier und hat dies in der neuen Inszenierung des Rathener Traditionsstückes, der mittlerweile neunten auf der Felsenbühne, mit Anja Furthmann (Ausstattung) eindrucksvoll familien- und ausflugstauglich umgesetzt.
Im Zentrum stehen die individuellen Persönlichkeiten von Agathe und Max, die sich in den ihnen zugewiesenen Rollen beileibe nicht wohlfühlen. Sie hadern damit, ringen ein wenig miteinander, wie sie die Konflikte lösen, ihren Weg finden. Aljaž Vesel (Max) und Mareike Schröter deuten dies nicht nur an, sie untermalten es in den wenigen Szenen ambitioniert. Auch Franziska Abrams Ännchen, lebenslustig, fesch und frech, macht neugierig, ihren Figurenansatz noch einmal genauer und bei ganzer Spieldauer zu erleben.
Rathen ist Ausflugsziel, viele Kulturneugierige kommen mit der Familie und ihren Kindern hierher – und auch für sie wird es interessant und ein wenig gruselig. Vor allem Samiel, in der Premierenbesetzung Michael Berndt-Cananá, könnte sich als spektakulär erweisen. Sein phantasievolles Kostüm macht aus Samiel nicht ad hoc einen gemeinen Teufel, sondern erinnert an Edward mit den Scherenhänden – nicht das banale Böse, sondern das Verführerische, das seinen Reiz ausspielt, macht die Rolle interessant und rückt sie aus dem Rand fast ins Zentrum der Gesellschaft. Umgeben wird Samiel von vier Tänzern, Lorenzo Giovanetti, Hanna Sand, Vivian Loridana Walter und Christopher Wernecke, aus denen Anja Furthmann Augenwesen mit Spinnenbeinen macht – Fabel- oder Höllengetier? Oder sind es Mutationen unserer Gesellschaft?

Szenen statt Regenabbruch: Ensemble und Chor in Regenpelerinen am Premierenfreitag, Photo: NMB
Wesentliche Stücke aus dem Freischütz, die Max-Arie oder der Jägerchor, blieben dem Publikum am Freitag leider vorenthalten, trotz immer schlechter werdenden Wetters boten aber der Chor (mit übergeworfenen Pelerinen), Sänger und Orchester sowie ein emsig agierendes und improvisierendes Team eine zwar nicht geschlossene, aber eindrucksvolle Vorstellung.
Wer ausharrte, wurde mit dem Höhepunkt, dem Gießen der Freikugeln in der Wolfsschlucht belohnt. Feuer, Rauch, Wolfsgeheul und unheimlich glimmendes Rot, Grün und Blau machten daraus ein so effektvolles wie fabelhaftes Spektakel. Am Ende wurden (mit Unterbrechungen) fast zwei Stunden Oper geboten, inclusive Pferden und Feuerwerk. Mehr Glück hatten die Besucher der eigentlich zweiten Vorstellung, die am Sonnabend unverhofft zur nachgeholten Premiere bei bestem Wetter kamen. Da bleibt den Premierengästen nur eines: bei nächster Gelegenheit noch einmal nach Rathen zu fahren.
24. Juni 2023, Wolfram Quellmalz
Carl Maria von Weber: »Der Freischütz«, Felsenbühne Rathen, Nächste Vorstellungen am kommenden Wochenende (ab Donnerstag) sowie noch zweimal im September.