Mailänder Organist Paolo Oreni eröffnet Internationale Dresdner Orgelwochen
Sommerzeit ist Ferienzeit, Urlaubszeit, Reisezeit. Doch über sechs Wochen kann kaum jemand »weg« sein, da ist es schön, wenn es während der Zeit im gewohnten Wochenrhythmus zu Hause kulturelle Höhepunkte gibt. Seit dem vergangenen Mittwoch ist der Dresdner Orgelzyklus noch ein wenig größer, weitreichender und lädt als Internationale Dresdner Orgelwochen Gäste aus ganz Europa ein. Aus Rom, Vilnius, Lausanne, Budapest oder Danzig kommen Organistinnen und Organisten an die drei Orgeln der Kreuzkirche, Hofkirche (Kathedrale) und Frauenkirche. Für manche von ihnen ist die Konzerteinladung nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern wesentlicher Bestandteil der musikalischen Arbeit. Wie für den Mailänder Paolo Oreni, der als freier Musiker arbeitet und gerade die Region besucht. Am Vortag spielte er die Silbermann-Orgel in Glauchau, seine Reise führte ihn anschließend nach Oschatz und Dobbertin – fast die Hälfte des Jahres ist Paolo Oreni in Deutschland unterwegs. Anders als in Frankreich oder bei uns sind Kirchenmusiker in Italien meist nicht festangestellt, werden eher »spontan« ausgesucht, wie Ministranten, meint Paolo Oreni – manchmal klinge es deshalb entsprechend. Das habe seine Ursache unter anderem in der geringeren Bedeutung des liturgischen Orgelspiels in Italien. In der Messe zum Beispiel seien nach wie vor die Gregorianischen Gesänge wesentlich.

Die Internationalen Dresdner Orgelwochen finden in der Kreuzkirche, Hofkirche, und Frauenkirche (von links) statt, Abbildung: NMB, Bildmaterial: Wikimedia commons
Um so mehr freute sich Paolo Oreni über das Instrument der Kreuzkirche – in Mailand zum Beispiel gäbe es so etwas nicht. Zwar habe man eine vergleichbare Orgel, die sich im Klang jedoch nicht mit jener von Jehmlich messen könne. Gute Voraussetzungen also für sein Konzert mit dem Titel »Con fuoco«. Daß »mit Feuer« mehr als nur eine musikalische Vortragsbezeichnung ist, sondern die ganze Interpretation prägen, Auffassung und Inspiration sein kann, machte der Organist mit seinem Programm deutlich, daß nur einen Fehler hatte: es war ein wenig zu kurz!
Paolo Oreni versetzte die Kreuzkirche zunächst im Klang nach Italien, denn mit Johann Sebastian Bachs Concerto in D (BWV 972) stand eine jener Bearbeitungen, die Bach nach Antonio Vivaldi (Concerto RV 230) angefertigt hatte, am Beginn. Sie funkelte im vitalen Spiel des Oberwerkes, formte Vivaldis Basso continuo zum Wellenmotiv im zweiten Satz um, ließ das Orchestertutti im Finale wachsen.
Daß Bearbeitungen nicht nur pragmatische Anpassungen sind, sondern mitunter Neuschöpfungen, bewies Franz Liszts Phantasie und Fuge über B-A-C-H. Sowohl die originale Klavier- als auch Liszts eigene Orgelfassung sind geläufig, allerdings war manchem Organisten die letztere – Franz Liszt beherrschte das Instrument eben nur bedingt und wußte dessen Möglichkeiten nicht bis ins kleinste auszuschöpfen – zu wenig. Wie Jean Guillou, Titularorganist an Saint Eustache in Paris und Lehrer Paolo Orenis. Guillou hat die Fassungen von Franz Liszts »synkretisch«, also der Philosophie und Idee entsprechend, auf die Orgel übertragen. Zum Beispiel »wanderte« vieles dessen, was auf dem Klavier die linke Hand spielt, ins Pedal, aber nicht nur das. Guillou nimmt Liszts Idee auf, faßt sie aber weiter und verleiht ihr eine Komponente der Moderne, die völlig neue chromatische Bezüge einschließt. So beeindruckend wie am Mittwoch hört man Phantasie und Fuge selten! Hier und da schienen die Flammen des Fuoco aus den Pfeifen zu schießen …
Auch im folgenden Stück, dem Allegro vivace aus Charles-Marie Widors fünfter Orgelsinfonie, verbanden sich die Stile quasi synkretisch: gedämpft, kantabel, impressionistisch, expressionistisch – die Stimmung war vorherrschend, fast berauschend.
Das sei mal jemand, der sich traut, meinte eine Zuhörerin am Schluß – da hatte sie recht! Denn mit einer großen Improvisation, einem Spiel mit dem Fuoco, bewies Paolo Oreni, wie der freie Umgang mit Musik und Themen beflügeln kann. Aus einem schlichten Motiv und der Gegenüberstellung von Baß und Melodie wuchs ein polyphones Werk, das schließlich »Geh aus mein Herz und suche Freud« in mannigfaltigen Farben einschloß – ein etwas kurzer, aber großer Orgelabend!
In den nächsten Wochen stehen Klassiker der Orgelliteratur ebenso auf dem Programm wie Ländererkundungen im Baltikum, aber auch Jubilar Max Reger wird wieder erklingen. Darüber hinaus gibt es in der Ferienzeit in der Kreuzkirche statt der Kreuzvespern den Orgelsommer am Sonnabend, jeweils 15:00 Uhr.
6. Juli 2023, Wolfram Quellmalz