Moritzburg Festival gibt sich kontrapunktisch und romantisch
Am Dienstag war die Entscheidung über den Spielort beim Moritzburg Festival (MBF) so spät wie wohl noch nie gefallen, aber nach einer Unwetterwarnung gab es keine Alternative mehr zur Evangelischen Kirche. Dabei dürfte ein Werk (bzw. drei Teile daraus) besonders profitiert haben: Johann Sebastian Bachs Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier. Der pianistische Meilenstein hat schon seit Bachs Lebzeiten Bearbeiter angeregt. Die meisten nahmen sich nur einzelne Teile aus dem Zyklus vor und übertrugen sie auf andere Instrumente. Kevin Zhu (Violine), Ulrich Eichenauer (Viola) und Andreas Brantelid (Violoncello), der eben von seinem eigenen Kammermusikfest aus Norwegen (Kammermusikk Festivalen, Stavanger) angereist war, nahmen sich die drei Werkpaare BWV 854 (E-Dur), 873 (cis-Moll) und 881 (f-Moll) aus einer anonymen Übertragung vor und ließen das Streichtrio zu einem einzigen Klangkorpus verschmelzen. Mit herrlich ausgewogener Ruhe begann das erste Präludium, die Kontrapunktik und Struktur trat wie von einer Streicherorgel gespielt hervor, die Fuge aus 854 wurde mit feinem Legato geschmeidig verfeinert, das folgende Präludium (873), kaum weniger gesanglich, steigerte sich gar bis in romantische Gefilde.

Kirche und Pfarrhaus in Moritzburg, 1905, Historische Postkarte von Brück & Sohn Kunstverlag Meißen, Bildquelle: Wikimedia commons
Dort bzw. in den Ausläufern der Spätromantik war Reinhold Glière zu Hause. Mit seinem Sextett Nr. 3 für Streicher C-Dur folgte sozusagen ein Nachtrag im doppelten Sinn zum Streichsextett von Johannes Brahms vom Eröffnungsabend. Diesmal übernahmen Paul Huang und der als Entlastung für Akademie-Direktorin Mira Wang eingesprungene Kevin Zhu (Violinen), Ulrich Eichenauer und Matthew Lipman (Viola) sowie Andrei Ioniță und Sandra Lied Haga (Violoncello) die ausgewogen verteilten Stimmen. Effektvoll hob das Werk mit einem Intradavorsatz an, an den sich solistischer und chorischer Gesang der Streicher schloß. Die einander durchwogenden Stimmen schienen von erregter Leidenschaft getragen, vor allem von den Violinen und Andrei Ioniță entfacht. Dessen Kantabilität bestimmte auch immer wieder das Larghetto, bevor das zweite Allegro anstelle des Scherzos für eine leichtere Stimmungslage sorgte und eine melodische Harmonie à six herstellte. Das Allegro vivace gewann bald wieder an Schwung, wiewohl die Erregung zunächst beherrschter schien. Über schwärmerische Bögen gelangten die sechs Spieler in ein feuriges Finale.
Dort schien Robert Schumann anzuschließen. Mit Antti Siirala (Klavier), Chad Hoopes und Stella Chen (Violinen), Paul Neubauer (Viola) und Zlatomir Fung (Violoncello) nahm sich eine Besetzungsmischung aus alt-erfahrenen und neuen Moritzburgianern das Klavierquintett Es-Dur (Opus 44) vor. Antti Siirala ließ den Bösendorfer effektvoll perlen, gewährte den Kollegen ausreichend Spielraum. Die hatten sich, mit der Viola rechts außen, zwar vor dem Flügel postiert, doch überzeugte gerade die innige Verbundenheit trotz der typisch Schumann’schen Führungsrolle des Klaviers. Das war aber nicht immer so – der zweite Satz schien mit »Fugen in der Nacht« Bach zu grüßen, Paul Neubauer gab thematisch und samten den Ton vor. Das Scherzo erfrischte erst mit leidenschaftlicher Nonchalance, bevor der Trio-Einschub die Kontrastschärfe deutlich erhöhte. In Schumanns Tiefen fanden die fünf offenbar noch mehr und zirkelten das Finale vibrierend aus.
16. August 2023, Wolfram Quellmalz