Vocal Concert Dresden setzt Reihe »Voices for today« fort
Schon zum vierten Mal brachte Peter Kopp mit seinem Chor Werke zu Gehör, die als »Politische Streiflichter« (Untertitel) Aussagen enthalten oder sich auf Situationen beziehen, die für uns zurückliegen. Insofern handelte es sich – wiewohl manche Texte nach wie vor Gültigkeit zu haben scheinen – keinesfalls um »politische Willens- oder Sympathiebekundungen« durch das Vocal Concert Dresden, wie Peter Kopp in seiner Begrüßung betonte. Fragezeichen, die beim Hören entstehen, auch Ausrufungszeichen oder Gedankenstriche, seien daher nicht nur berechtigt, sondern willkommen.
Das sorgte für eine sozusagen mehrdimensional aufschließende Situation: am Freitagabend wandelte das Vocal Concert Dresden zweimal (um die Publikumsnachfrage bei begrenzter Platzkapazität befriedigen zu können) durch das Haus der Sächsischen Staatskanzlei, sang auf den Stufen, Emporen und im Zentrum der Kuppelhalle, machte einen »Ausflug« in den Großen Sitzungssaal. Viele der Werke sind heute kaum bekannt oder vergessen – nicht etwa wegen minderer Qualität, sondern eben weil der einst spezifische Anlaß nicht mehr gegeben, die Verbindung also »gerissen« ist.
Mit der Wiederaufführung allein ist es aber nicht getan – sowohl Ausführende als auch Zuhörer mußten sich mit Anlaß und damaligen Gegebenheiten befassen, um manchen direkten oder immanenten Sinn zu erfassen. Und selbst dabei blieb die Perspektive selbstverständlich retrospektiv und beinhaltete unsere Erfahrungen sowie die »Sicht« auf den jeweiligen Zeitabschnitt. Da die Erfahrung zeigt, daß selbst diese Sicht, noch auf weit zurückliegende Zeiten, die »abgeschlossen« scheinen, Änderungen infolge neuer Erkenntnisse oder sich wandelnder Moralvorstellungen unterworfen ist (man denke etwa an die »Schlacht im Teutoburger Wald«, heute »Varusschlacht« genannt), darf man die Idee als lohnenden Ansatz der Aufarbeitung auffassen, nicht als Rückbesinnung oder gar Glorifizierung.
Zudem konnte man die eine oder andere Überraschung erleben. Wie bei Pierre de Manchicourt. Der französische Name steht (für uns heute) für einen Meister der niederländischen Vokalpolyphonie, als Kapellmeister stand de Manchicourt jedoch im Dienst Philipp II. von Spanien, dem Sohn Karls V. Moritz von Sachsen – genau jener, der vor fast auf den Tag genau 475 Jahren die Sächsische Hofkapelle (damals ein Vokalensemble!) gründete, war vorübergehend ein enger Verbündeter Karls V., weshalb Pierre de Manchicourt sein Nil pace est melius dem Deutschen Kurfürsten widmete. (Später freilich wurde Moritz einer der wichtigsten Gegner Karls V.)

Das Vocal Concert Dresden in der Kuppelhalle der Sächsischen Staatskanzlei sowie im Großen Sitzungssaal (unten rechts), links oben: Sopranstimmen des Kreuzchores mit Richard Stier, Photos: NMB
Ein anderes Beispiel: Julius Ottos »Sachsenlied«, einst praktisch im Rang einer Landeshymne und vor allem bei Männerchören beliebt, wurde mit dem Ende des Sächsischen Hofes nach dem Ersten Weltkrieg praktisch vergessen. (Immerhin: Der Text stammte von Maximilian Hallbauer, zum Zeitpunkt der Jubiläumsfeier, für die das »Sachsenlied« 1841 geschrieben wurde, Hilfslehrer bei den Kruzianern und später unter anderem Pfarrer in Rochlitz, dem Geburtsort des Rezensenten [sic!].)
Die Streiflichter, Bilder oder musikalischen Gemälde waren – wie die Bilder in der Geschichte der Malerei – von höchst unterschiedlicher Art. Hanns Eisler zeigte sich in seinem »Vorspruch« modern und provokativ, begann das »Chor-Referat« doch gerade mit dem, was es nicht sein wolle (Eisler spielte mit eigenem Text auf Kirchenglocken, romantisches Lied und klassische Chorwerke an, um in ein Kampflied zu münden). Geradezu atemlos jagte Kurt Hessenbergs »Die öffentlichen Verleumder« (Text: Gottfried Keller), um in getriebener Angst und Unsicherheit zu enden. Dagegen war Pierre de Manchicourts wunderbar schwebender Gesang, der sich in der Kuppelhalle wie in einem Kirchendom entfaltete, von beruhigender Schönheit. Mancher »erwachte« staunend erst in der zweiten Strophe, die dem Sächsischen Kurfürsten nicht nur huldigt, sondern ihn denn auch offen benennt.
Das Vocal Concert Dresden war hier wie da sicher, hervorragend verständlich und angemessen ausdrucksstark – ungemein wichtig, wenn man die »Streiflichter« nicht flackern oder verpuffen lassen will! So bewiesen die Männerstimmen des Vocal Concert Dresden beim »Sachsenlied«, daß man dieses mit etwas persönlichem Abstand, aber Freude und Respekt vortragen kann, also ganz ohne patriotische Überhöhung.
Als krönenden Schluß hatte Peter Kopp das titelgebende Werk der Reihe, »Voices for Today« von Benjamin Britten, ans Ende des Konzerts gesetzt. Wieder einmal zeigte sich, wie großartig Britten für Chorensembles schreiben konnte – und wie berührend das Vocal Concert dies vorzutragen weiß. Am Beginn an jene Glocken erinnernd, die Eisler nicht klingen lassen wollte, steigerten sich die Stimmen (Voices) oder Worte (Verse aus Texten unterschiedlicher Autoren von Jesus Christus und Laotse bis zu Friedrich Hölderlin und Albert Camus), die nicht nur Friedenswünsche und -botschaften enthielten, sondern einen ganzen Menschheitsauftrag (für eine bessere Zukunft). Dabei schlossen sich mehrere Kreise, denn das Vocal Concert Dresden wurde um einige Soprane aus dem Dresdner Kreuzchor verstärkt, die als Himmelschor (Leitung: Richard Stier) erst mit Vokalisen eine Stimmung bereiteten und sich dann »einmischten«. Also war jene Generation, welcher wir die Zukunft in die Hände legen, beteiligt, aus jenem Chor, dessen Kantor Julius Otto gewesen war (1830 bis 1875, zuvor ab 1828 interimistisch) und dem auch Peter Kopp (1995 bis 2017 Chordirigent des Kreuzchores) nach wir vor verbunden ist.
30. September 2023, Wolfram Quellmalz
Nächstes Konzert des Vocal Concert Dresden: 24. November, 20:00 Uhr, »Messias Superstar« Europäisches Oratorium unserer Zeit nach Georg Friedrich Händel, mit Maria Markesini und der European BigBand und den Klazz Brothers, im Rahmen der Jazztage