Plateau mit Ausblick

Staatskapelle Berlin und Christian Thielemann erklimmen Bruckners Höhen

Wenn die vergangenen Monate von manchen als die »Brautschau« zwischen Christian Thielemann und der Staatskapelle Berlin genannt wurden, muß man seit Bekanntgabe des Vertrages (ab der Spielzeit 2024 / 25) wohl von den Hochzeitsvorbereitungen sprechen. Oder sind es schon die Flitterwochen? Ungeachtet solcher Vergleiche ist derzeit mehr als spürbar, daß Dirigent und Orchester einander gewählt haben, sich mit allem möglichen Entgegenkommen einlassen wollen. Nicht nur, daß die Staatskapelle dem Chef in spe jeden Wunsch von Augen und Fingerspitzen abliest, auch die Blumen kamen aus dem Orchester – Soloflötistin Claudia Stein überreichte am Ende den Strauß. Auf Seiten von Christian Thielemann läßt sich das Entgegenkommen und Ablesen ebenso ausmachen. Ohnehin gilt er als einer der besten, wenn es darum geht, eine Situation zu erfassen, vom Orchester anzunehmen, was es bietet, und beides in einem Aufführungsmoment zu verschmelzen.

Fingerzeig des Chefs: Christian Thielemann am Pult der Berliner Staatskapelle, Photo: Staatskapelle Berlin, © Jakob Tillmann

Insofern darf man sich derzeit gerne fragen, ob Christian Thielemann derzeit nur »einer der« besten Brucknerinterpreten ist, wie ihn Dramaturg Karsten Erdmann in der Einführung vorstellte, oder nicht gar der beste (?). Doch soll diese Frage hier gar nicht geklärt werden, lassen wir sie getrost im Raume stehen …

Resümieren wir lieber über diese Sinfonie, Anton Bruckners fünfte, seine (vielleicht) größte, die allein einen ganzen Abend füllt – keine Ouvertüre, keine Pause. Wozu auch? Bruckner (oder Thielemann) wirkt schlicht, vorausgesetzt, er kann sich so entfalten wie gestern in der Staatsoper Unter den Linden. Die Deutsche Sitzordnung mit den Ersten und Zweiten Violinen gegenüber überraschte den einen oder anderen vielleicht, indes kam sie der kontrapunktischen Anlage des Werks sehr entgegen, zumal die Staatskapelle Berlin keine Mühe hatte, mit Klang und Atmosphäre in höhere Sphären zu zielen. Zuvörderst zu nennen ist da die Blechbläsergruppe, vier exzellente Hörner, Posaunen, Tuba, die im Gegenüber ebenso reflektieren wie zu einem Chor verschmelzen konnten. Die Streicher (mit starker Viola- und Kontrabaßgruppe – wesentlich für die Homogenität!) nahmen die Motive gern entgegen und ließen sie nachhallen – schließlich hat der Komponist auch Choräle in seinem Werk versteckt.

»Erratisch« gehört zu den Attributen, die Anton Bruckners Sinfonien oft kennzeichnen, doch ist das nicht mit schierer Größe oder Monumentalität gleichzusetzen, im Gegenteil differenzierte Christian Thielemann den Verlauf sehr aus, ließ Wiederholungen leise nachklingen. Ein federnd-leichtes Pizzicato betonte das nun ins Cello gewanderte Motiv um so mehr.

Im zweiten Satz ist Bruckner mit einem einfachen Motiv (treppauf, treppab, so scheint’s) Bach am nächsten. Die Berliner Staatkapelle zirkelte die Kontrapunktik metrisch aus, bewahrte aber einen warmen Puls, um gleich darauf mit einem Scherzo, vor allem dem luftigen Trio, zu entzücken, in dessen Hin- und Wegleitung sie eine Mahler’sche Lieddichte erreichte.

Umarmungen: Christian Thielemann und die Staatskapelle Berlin, Photo: Staatskapelle Berlin, © Jakob Tillmann

Mit kleinem Fingerzeig, aber auch großer Geste (als wolle er das ganze Orchester umarmen) ordnete Christian Thielemann Strukturen, nahm an, was ihm geboten wurde. So gelang das Finale, aus einer Fuge in die Polyphonie gesteigert, in wundersamer Zwiegestalt: einerseits (wieder mit Blechbläserchor) die übersteigerte Apotheose des Gipfels, andererseits eine vollkommene Transparenz der gleichzeitigen oder ineinandergreifenden Stimmen.

Da dürfen sich die Berliner eigentlich freuen auf alles, was da noch kommen mag …

21. November 2023, Wolfram Quellmalz

heute noch einmal: 20:00 Uhr, Berliner Philharmonie (Großer Saal), Staatskapelle Berlin, Christian Thielemann (Dirigent), Anton Bruckner fünfte Sinfonie B-Dur

https://www.staatskapelle-berlin.de

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