Mit Passion: Bachs erster Leipziger Kantaten-Jahrgang

Am 30. Mai 1723 trat Johann Sebastian Bach das Amt des Thomaskantors in Leipzig an. Für den 1. Sonntag nach Trinitatis hatte er die Kantate »Die Elenden sollen essen« geschrieben, später als Nr. 75 ins Bach-Werke-Verzeichnis eingetragen. Wiewohl der Leipziger Rat für das Thomaskantorat vor allem pädagogische und schulische Aufgaben vorsah, und die Musik nur soweit einzurichten sei, daß sie der Andacht diene – auf keinen Fall zu opernhaft dürfe sie sein! – entstanden in den ersten drei Jahren Kantatenzyklen (teilweise unter Nutzung bereits zuvor geschriebener Werke).

Hans-Christoph Rademann, der sich bereits in der Vergangenheit dezidiert mit Johann Sebastian Bachs auseinandergesetzt und dessen Werke mit dem Dresdner Kammerchor oder dem RIAS Kammerchor aufgeführt und aufgenommen hat, wendet sich als Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart (IBA) seit diesem Jahr erneut dem Kantatenwerk des Thomaskantors zu. Im Mittelpunkt stehen dabei die Leipziger Jahrgänge, die im Rahmen des Projektes Vision.Bach aufgeführt und im Anschluß an die Konzerte aufgenommen werden. Pünktlich im Mai begann das Projekt mit BWV 75 in der Liederhalle Stuttgart, seitdem und noch bis zum 31. Mai 2024 werden die Kantaten des ersten Jahrgangs in 23 Konzerten an wechselnden Orten (vor allem Kirchen in Stuttgart und Umgebung) aufgeführt.

Im November bereits ist die erste Ausgabe der Mitschnitte auf Doppel-CD erschienen, die nächste folgt im Januar. Die zur IBA zählende Gaechinger Cantorey ist das feststehende Ensemble des Projektes, während die Solisten von Konzert zu Konzert wechseln. Hier tauchen international bekannte Namen auf, teils solche, die man seit Jahren als Experten für Bach oder die Alte Musik kennt, teils jüngere, die mit dem Projekt wachsen, bekannt werden können.

Die ersten beiden CDs umfassen die Kantaten »Die Elenden sollen essen«, »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«, »Ich hatte viel Bekümmernis«, »Ein ungefärbt Gemüte« und »Barmherziges Herze der ewigen Liebe«, die zu den ersten vier Sonntagen der Bach-Amtszeit aufgeführt wurden. Gleich die ersten beiden Kantaten geben vertiefte Einblicke in Bachs Schaffen und die Leipziger Verhältnisse: Einerseits zeigen sie einen »regelkonformen«, gemäßigten Komponisten, der es wunderbar vermag, Gedanken in seiner Musik zu verankern und sie gegenwärtig bleiben zu lassen, wenn das Textthema bereits verklungen ist (wie in BWV 75 der Choral »Was Gott ist, das ist wohlgetan«). Andererseits sind es zwei Kantaten im Extraformat, denn weil sie in Leipzig vor und nach der Predigt erklingen sollten, sind sie zweiteilig angelegt. Patrick Grahl (Tenor) und Tobias Berndt (Baß) erweisen sich gleichermaßen als textbewußt, da sie sich nicht auf die Arien als Höhepunkte allein konzentrieren, sondern auch der Gestaltung der Rezitative viel Beachtung schenken. Mit Alex Potter ist ein Altus beteiligt, der Rezitativen Dramatik verleihen kann, ohne opernhaft zu wirken – ob der Leipziger Rat das also goutiert hätte? Die andächtige Schlichtheit der Arie »Liebt, Ihr Christen, in der Tat!« ist auf jeden Fall überzeugend.

Zur Gaechinger Cantorey zählen Instrumentalisten, deren Bläser den festlichen Charakter gerade der Chöre reich ausgestalten und die über ein reiches Continuo verfügen. Das ist wichtig für die auch technisch gelungene Aufnahme, da sie damit der Eindruck einer (großen) Stadtkirche bzw. eines großen Klangraums unterstreicht.

Mit einem Höhepunkt startet die zweite CD: Die Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis« (nach neuer Zählung BWV 21.3) gehört zu den bekanntesten überhaupt. Miriam Feuersinger (Sopran) scheint mit »Seufzer, Tränen, Kummer, Not« geradezu aus himmlischen Sphären herabzuschwingen. Dabei berühren die tiefen Lagen nicht weniger als die Höhen aus weiter Ferne. Benedikt Kristjanssons Tenor schmiegt sich darauf (»Wie hast du dich, mein Gott«) in die Musik ein, findet einen »Punkt« in dem sich Sehnsucht, Zweifel und Hinwendung vereinen. Die nachfolgende Arie »Bäche von gesalznen Zähren« versetzt den Zuhörer ganz in die Nähe der großen Passionen. Den Höhepunkt der Kantate bildet allerdings das großartige Duett (Rezitativ und Arie »Komm, mein Jesu, und erquicke«) von Seele und Vox Christi.

Dezember 2023, Wolfram Quellmalz

bereits erhältlich:

Vision.Bach 1 – Bach-Kantaten vom 1.bis 4.Sonntag nach Trinitatis des 1.Leipziger Jahrgangs 1723: BWV 75 »Die Elenden sollen essen«, BWV 76 »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«, BWV 21.3 »Ich hatte viel Bekümmernis«, BWV 24 »Ein ungefärbt Gemüte«, BWV 185.2 »Barmherziges Herze der ewigen Liebe«, Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, 2 CDs, Hänssler

erscheint im Januar:

Vision.Bach 2 – Bach-Kantaten vom Johannistag bis 8.Sonntag nach Trinitatis des 1.Leipziger Jahrgangs 1723: BWV 167 »Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe«, BWV 147 »Herz und Mund und Tat und Leben«, BWV 186 »Ärgre dich, o Seele nicht«, BWV 136 »Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz«, mit: Miriam Feuersinger, Elisabeth Breuer, Alex Potter, Benedikt Kristjansson, Julian Habermann, Matthias Winckhler, Peter Harvey, Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, 2 CDs, Hänssler

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