Geheimnisvolle Schatten und Blumen

Mittelsächsische Philharmonie feiert »Poesie der Nacht«

Die Mittelsächsische Philharmonie verknüpft in dieser Saison ganz besonders die beliebten Werke der Sinfonik mit wenig oder unbekannten Stücken. Die Gefahr einer »bösen« Überraschung ist dabei gering, die einer verblüffenden um so höher. Oder lag es am Mond? Der stand am vergangenen Donnerstag und Freitag im Wassermann, jenem Sternzeichen, dem man das größte Überraschungspotential nachsagt. Waren in den ersten Konzerten der Spielzeit Zoltán Kodály, Johann Stamitz oder Jean Françaix zu entdecken, gab es diesmal in der Nikolaikirche Freiberg gleich ein ganzes poetisches Bukett. Die vermeintlich bekannteste Blume darin, Claude Debussys »Clair de lune«, erwies sich als schmucker Farbtupfer, doch die größten Magie verbreiteten zwei Liedzyklen von Benjamin Britten und Hector Berlioz.

Eingeleitet wurde das Programm mit der Fanfare for St. Edmundsbury von Benjamin Britten, genauer gesagt den Fanfaren, denn Britten hatte deren drei verknüpft, die erst höchst unterschiedlich von verschiedenen Punkten durch die Kirche riefen, um sich hernach sinnig zu verbinden. Die unterschiedliche Stimmung der Trompeten sorgte stufenweise für einen lichteren Eindruck, als alle drei verschmolzen, offenbarte sich ein öffnender Charakter.

Kaum weniger groß war die Überraschung nach Brittens Fanfare, die sozusagen als Intrada gedient hatte. Das Nocturne aus der A Moorside Suite von Gustav Holst muß keinen Vergleich mit den »Planeten« scheuen! Nicht wuchtig, fröhlich oder burschikos lockte es, sondern mit einem durch sämtliche Solobläser mäandernden Thema. Englischhorn, Flöte, Klarinette und Oboe wechselten munter, verbreiteten märchenhaft-orientalische Nachtatmosphäre und fanden mit den Streichern zusammen, um schließlich durch den Chor der Blechbläser sozusagen nachhalltig verstärkt zu werden.

War die Poesie bisher – aber sehr nachdrücklich – in sinfonischen Farben enthalten, wurde ihr nun auch das Wort gegeben. Tenor Inkyu Park und Hornist Wawrzyniec Szymański übernahmen in Benjamin Brittens Serenade für Tenor, Horn und Streicher Opus 31 die Solopartien, überraschenderweise aber nicht vorn an der Bühnenrampe stehend, sondern leicht seitlich hinter den Streichern. Doch die Akustik gab der Aufstellung recht, denn die Stimmen mischten sich ausgewogen. So konnte man den Zauber englischer Poesie erfahren – der Komponist hatte unter anderem Gedichte von Charles Cotton, Alfred Lord Tennyson und John Keats verarbeitet. Zum warmen Streicherklang verlieh Wawrzyniec Szymański seinem Horn einen kantablen Ton, Inkyu Park erweckte die »Pastorale« (Cotton) mit belebendem Vibrato. Das Orchester putzte unter Attilio Tomasello humorige Illustrationen heraus, wie im Pizzicato, das Schafe zeichnete oder bei Tennysons Nocturne, in dem die Streicher Sternschnuppen »fallen« ließen. Das Horn blieb auch hier wichtig – für eine Jagdszene. William Blakes »Elegie«, die den Tod einer Rose beklagt, formte Inkyu Park sehr dramatisch aus, in der langen »Klage« (anonym), die einer Beschwörung gleich immer wieder zur Zeile »Christus empfange deine Seele« führt, ließ seine Ausdruckskraft dagegen ein wenig nach. Die »Hymne« (Ben Johnsen) konnte dies jedoch ausgleichen, bevor in John Keats‘ Sonett Tremoli der Nacht und dem Schlaf neuen Lebenspuls spendeten.

Nach so viel ungewohntem, berührend poetischem, war der Mondschimmer in Claude Debussys »Clair de lune« (Orchesterbearbeitung von André Caplet) nach der Pause ein lieber Bekannter, der zu fragen anregte, welche Fassung die schönere sei: ob Puristen das Original (Klavier) und Sanguiniker die Luftigkeit des Orchesters bevorzugen?

Kirsten Scott und GMD Attilio Tomasello mit der Mittelsächsischen Philharmonie in der Nikolaikirche Freiberg, Photo: NMB

Dabei stand das schönste noch bevor! Denn Hector Berlioz‘ Liedzyklus »Les nuits d’été« (Die Nächte im Sommer) Opus 7 übertraf selbst Britten noch, und das nicht nur, weil er der Sehnsucht an den Sommer entsprach. Die Bläser tupften im »Ländlichen Lied« den Mai wach, zu dem Kirsten Scott ihren geschmeidigen Mezzosopranistin entfaltete, der bis ins Piano wunderbar leuchten konnte. Auch bei Berlioz (bzw. seinem Textdichter Théophile Gautier) gibt es eine sterbende Rose – Gautiers jedoch, die als Geist wiederkehrt, klang ungemein tröstender über dem wogenden Blumemmeer des Orchesters!

Dramatisch forcieren konnte Kirsten Scott ebenso – für »Auf den Lagunen«, wiewohl an sich ein Trauergesang, setzte sie ein betörendes Vibrato ein. Wie bei Britten folgte auf den dunklen Farbklecks einer tiefroten Blüte sogleich eine Aufhellung, denn »Trennung« rief bereits wieder zur Rückkehr auf. Und wer hätte bei »Das unbekannte Land« nicht an jenes gedacht, wo außer den Zitronen auch die Apfelsinen blühen?

Nach Berlioz‘ geradezu berauschenden Liedern wollte die Mittelsächsische Philharmonie ihr Publikum nicht einfach so gehen lassen und schenkte ihm als Zugabe »Le jardin féerique« (Der Feengarten) aus Maurice Ravels »Ma mère l’oye«.

8. März 2024, Wolfram Quellmalz

Im 6. Sinfoniekonzert der Mittelsächsischen Philharmonie treffen als »Fernes Echo« Werke von Luciano Berio, Aaron Copland, Daniel Schnyder und Arkady Shilkloper aufeinander (10. / 11. April)

https://www.mittelsaechsisches-theater.de

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