Collegium 1704 feiert Polifemo
Wie ein Bassist brillieren kann, hatte Luigi De Donato vor knapp einem Monat gezeigt, als er zum Solistenquartett des Messiah gehörte. Am Sonntag setzte er in der Annenkirche noch eins drauf, denn »Polifemo« war das wohl ungewöhnlichste Programm, mit dem die Musikbrücke Prag – Dresden leider bereits die Spielzeit abschloß – erst im Oktober geht es weiter. Das Konzert drehte sich um die sagenhafte Geschichte, die schon von Ovid und Homer niedergeschrieben wurden, nur stand nicht Odysseus bzw. Ulisse im Mittelpunkt, sondern einzig einer: Polifemo – ausgerechnet der Zyklop, der Unhold der Geschichte, der Galatea begehrt und Odysseus gefangenhält!

Unter der Leitung von Václav Luks entfachte das Collegium 1704 schon in Antonio Caldaras Sinfonia C-Dur ein Feuerwerk mit Pauken und Trompeten, das auch im letzten Polifemo-Akt (Ausschnitt aus Händels »Aci, Galatea e Polifemo«, HWV 72) noch einmal funkelte, doch war die Ouvertüre angesichts der solistischen sängerischen Darbietung bald schon regelrecht verblaßt, denn Luigi De Donato verblüffte, betörte und entzückte mit einem unglaublichen Stimmumfang wie mit einer dramaturgischen Gestaltung, die nicht nur Herzen, sondern Steine erweichen konnte – das also war der Bösewicht?! Wie auch immer es sei – Leidenschaft und Begehren fühlte dieser Polifemo sehr wohl! Das machten schon die Ausschnitte aus Domenico Albertis »La Galatea« deutlich, in denen bereits die Rezitative voller Inbrunst emotional aufgeladen waren. Wie nahe Liebe und Haß beieinanderliegen, wie schnell sie in zerstörerische Wut und Rache umschlagen können, führten die beiden Arien vor – wer am Sonntag im Konzert war, denkt bei »Rachearie« nicht mehr nur an jene aus der Zauberflöte, sondern nicht minder an Albertis Polifemo, der – von den Hörnern aufs schönste begleitet – wutschäumend und feuerspeiend noch den »lodernden Gipfel des Ätna« verwüsten will.
Die kleine überleitende Sinfonia zu Acis and Galatea (HWV 49) von Georg Friedrich Händel besänftigte mit Klängen, die bereits an den Einzug der Königin von Sheba erinnerten (das Oratorium »Solomon« entstand jedoch etwa vierzig Jahre später), um mit den ersten Ausschnitten aus »Aci, Galatea e Polifemo« zunächst den Komponisten in jungen Jahren von seiner raffiniertesten Seite zu zeigen: Die hohen Streicher waren diesmal stehend in einem Chor zusammengefaßt, der äolisch sang und den Text kommentierte, etwa tremolierend den in der Dunkelheit verwirrten Schmetterling illustrierte, während der Basso continuo sich auf einen einzigen (!) singenden Kontrabaß (Ludĕk Braný) konzentrierte – was für ein Duett mit dem akrobatischen Baß Luigi De Donatos, der Polifemos bis in den Subbaßbereich hinabsteigen ließ, in diesem Kellergewölbe aber immer noch so sanglich klang wie in den oberen (Galatea noch um Liebe anflehenden) Lagen! Nicht Tonsprünge, Tonabgründe hatte er zu bewältigen, blieb dabei aber gleichermaßen präsent und offenbar mühelos, ohne jedes Knarzen oder Grummeln (außer jenem, das er in den Rezitativen bewußt theatralisch einsetzte).
Hatte Luigi De Donato bzw. Polifemo schon bei Alberti die Faust gereckt, schäumte er nun wild – solchem Ungeheuer mag man außerhalb des Konzerts vielleicht doch nicht begegnen?
Mit der Fassung von Giovanni Bononcini, die in der Ouvertüre erneut in musikalisch galantere Gefilde führte, durften sich auch die Holzbläser stärker an der Ausschmückung beteiligen. Zunächst sang das Fagott (Györgyi Farkas) mit den beiden Oboen (Georg Fritz und Petra Ambrosi) im Duett, später putzten Flöten, Oboen und Fagotte ein Doppeltrio zum kammermusikalischen Kleinod auf.
Viel zu schnell wäre dieser außergewöhnliche Abend vorüber gewesen, aber mit »M’accendi in sen col guardo« aus Nicola Porporas »Polifemo« und einer Wiederholung der prächtigen Rachearie gab es eine Verlängerung, nach der der »ungeheuerliche Bassist« noch lange Autogramme schrieb.
15. April 2024, Wolfram Quellmalz
Für reisefreudige Musikfreunde gibt es am 2. August die Möglichkeit, das Programm noch einmal im Schloß Ambras (Innsbruck) zu erleben. (Ein Tip: Besuchen Sie dann auch den Dom. Dort finden Sie im Hochaltar das Bild »Mariahilf« von Lucas Cranach dem Älteren, das ursprünglich für die Dresdner Nikolaikirche, seit der ReformationKreuzkirche, entstanden ist.) Das Konzertprogramm »Polifemo« mit dem Collegium 1704 gibt es auch auf CD, erschienen bei Accent.

Die nächste Spielzeit der Musikbrücke Prag – Dresden beginnt am 16. Oktober.
Collegium 1704 & Collegium Vocale 1704