Sinfonietta Dresden legt auch in »Schnittpunkte IX« Bezüge offen
Zum silberneren Jubiläum des Bestehens rief die Sinfonietta Dresden 2019 die Reihe »Schnittpunkte« ins Leben, deren Konzerte jeweils um ein Werk Beethovens kreisen. Die Sicht- oder Hörachsen sind so verschieden, daß – über die Kreuzungspunkte hinaus – nicht immer Beethoven zwingend im Mittel- oder als Höhepunkt gehört werden muß. Auch am vergangenen Freitag sorgten im Konzertsaal der Musikhochschule zum nun 30jährigen Jubiläum des Orchesters gerade die zeitgenössischen Werke für wesentliche Inhalte und Interaktionsflächen.
Dabei schien der Ablauf, zumindest beim Orchesterumbau, nicht immer koordiniert, und auch das sehr improvisiert wirkende Vorgespräch ließ manche Wünsche (oder Fragen) offen. Im Kern jedoch – der Aufführung und Interpretation – fanden die Beteiligten für jeden Wunsch und jede Frage einen griffigen Ansatz. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Sinfonietta und der für die Gesamtleitung des Konzerts verantwortliche Valtteri Rauhalammi (Professor für Musiktheaterkorrepetition) dazu entschlossen hatten, das erste Stück des Abends, Brian Ferneyhoughs »O Lux«, Part 6 of Umbrations for Ensemble, (»Licht« aus den »Schatten« für Ensemble) nach der Pause noch einmal zu wiederholen. Viel zu selten wird solche Praxis genutzt, dabei bietet sie sich – erst recht bei kurzen Werken – doch an! Brian Ferneyhough hatte ein Renaissancestück von Christopher Tye aufgegriffen, dessen ursprünglich geschlossenen Klang (damals im Consort gespielt) er nicht nur aufspaltet, sondern geradezu zerlegt. Der Komponist soll die Charakterisierung »komplex« gar nicht mögen – nachvollziehbar, gerade nach der Wiederholung! Denn im »komplexen« steckt viel zu viel Dichte oder Gefüge, während Ferneyhough im Gegenteil zunächst für eine Differenzierung, fast individuelle Verselbständigung der einzeln besetzten Stimmen sorgt. Beim nochmaligen hören ergaben sie fließende Bezüge und offene, lichte Impulse.

Wobei das zweite Hören nicht nur von der Wiederholung, sondern auch von dem zuvor erklungenen »Zerfallen« von Julia Waldeck (Uraufführung) beeinflußt war. Die junge Komponistin gehört zu den aktivsten und umtriebigsten ihrer Zunft, war unter anderem bei Uraufführungen mit dem Arditti Quartett zu erleben [unser Bericht: https://neuemusikalischeblaetter.com/2023/04/23/aggregatzustande/%5D und brachte im Herbst ein eigenes Musiktheaterstück (»Aus vergessenen Träumen«) auf die Bühne (Kulturhaus Freital). Ihr Werk »Zerfallen«, das im Kontrast zu »O lux« träge schien, beschrieb mit zunächst vielen »leeren« Tönen (leere Saiten der Streicher, Luft in den Bläsern, jeweils ohne einen »richtigen« Ton) einen Raum, aus dem sich mit fallenden Glissandi, Schlagwerk und nun richtigen Tönen ein Klang schälte, wälzte. Mehr und mehr führte dieser in einen »echten« tonalen Raum, fand mit steigenden Glissandi zusammen – war das nicht das Gegenteil von »Zerfallen«? Yeeun Oh gebührt ein großes Lob für Exaktheit und Richtungsbewußtsein in ihrem Dirigat!
Zum Teil hatte Julia Waldeck Klänge beschrieben, die nebelig schienen. Doch vielleicht waren dies noch die Nebel, die noch aus Heinrich Marschners Ouvertüre zu »Ali Baba« gestiegen waren? Annika Größlein (wie Yeeun Oh aus der Klasse von Ekkehard Klemm), die an diesem Tag zum ersten Mal (!) im Konzert ein Orchester dirigierte, schöpfte aus dem reichen Kolorit Marschners, womit sich sofort eine Stimmung zwischen Freischütz und Heideröslein einstellte – Chapeau!
Für das letzte Werk übernahm wieder Valtteri Rauhalammi die Führung. Ludwig van Beethovens Klavierkonzert D-Dur Opus 61a nach dem Violinkonzert fristet im Konzertleben ja ein Schattendasein, liegt in der Popularität weit hinter den anderen fünf Klavierkonzerten zurück (damit aber weit vor dem »nullten«, einem praktisch nie gespielten Jugendwerk). Der Fall von Opus 61a zumindest ist aus Sicht des Rezensenten erklärbar: ähnlich wie in Dejan Lazićs Klavierfassung von Brahms‘ Violinkonzert oder Larry Todds Adaption des e-Moll-Schlußsatzes für die Rekonstruktion Mendelssohns drittem Klavierkonzertes offenbart sich, daß der Alleskönner Klavier eben doch nicht alles beherrscht. Es fehlt ihm schlicht der lerchenhaft jubilierende Ton der Violine!
Was aber nicht dagegen spricht, solch ausgezeichnete (und autorisierte) Stücke wie Opus 61a anzuhören. Zumal, wenn sie so exquisit dargeboten werden wie mit Joonbyeong Lee (Klasse Arkadi Zenzipér). Der Pianist überzeugte mit Genauigkeit und Feinheit der Artikulation, womit er die Eigenständigkeit des Werkes hervorhob und »verschleiernden« Trillern etwa einen musikalischen Ausdruck einpflanzte. Auch gelangen ihm spannungsvolle Legatobögen und elegante Übergänge zu brillanten Passagen (incl. der Kadenz mit den Pauken).
Im Orchester offenbarte sich wieder einmal das Fagott als ein bevorzugter Partner Beethovens – im Duo fand es zum Duett mit dem Klavier. Dagegen bleib der Eindruck der Blechbläser in den Tutti-Passagen deutlich übermächtig.
27. April 2024, Wolfram Quellmalz
Die Sinfonietta Dresden wird ihr Festprogramm 30jähriges Bestehen im Oktober mit »Schnittpunkte X« krönen. Auch davor gibt es zahlreiche Auftritte, wie im Mai zu einem Kantatenkonzert in der Martin-Luther-Kirche.