Mirga Gražinytė-Tyla kehrt schon nach einem halben Jahr zur Staatskapelle zurück
Die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla entwickelt sich zur Lieblings-Einspringerin der Sächsischen Staatskapelle. Im Herbst erst hatte sie durch einen Ringtausch mit Franz Welser-Möst und Tugan Sokhiev ihr Kapell-Debut gefeiert, exakt ein halbes Jahr später übernahm sie für den erkrankten Christian Thielemann. In einem rein französischen Programm hatte sie einen Starpianisten an ihrer Seite. Für das Konzert, das am Dienstag auch zu den Dresdner Musikfestspielen gehört, war Lang Lang wieder einmal zu erleben.
Die erste Programmhälfte am Sonntagmorgen in der Semperoper war gegenüber der ursprünglichen Planung gleich geblieben. Zur Eröffnung gab es Maurice Ravels Suite »Ma mère l’Oye« (Meine Mutter, die Gans), das fünf Märchenbilder skizziert. Auf »Dornröschens Pavane« folgen »Kleiner Däumling«, »Die Kaiserin der Pagoden«, »Das Zwiegespräch der Schönen mit dem Biest« und »Der märchenhafte Garten«, wobei sich Ravel auf die jeweils französischen Textquellen wie Charles Perrault bezogen hat, nicht die Grimms.

Schon mit den ersten Takten des kurzen Stückes sorgte Mirga Gražinytė-Tyla für ein reiches Kolorit, hob aus der Dämmerung verflochtene Stimmen, bei denen bereits anfangs die Exaktheit begeisterte, mit der Bläser- oder Harfensoli in die Streicher gesetzt waren. Vor allem, weil diese Exaktheit einer lebendigen Genauigkeit entsprach, keiner sterilen Regelkonformität. Oboe (bzw. Oboe d’amore), Flageoletts und das Perlenspiel der Harfe (Johanna Schellenberger) schufen eine märchenhafte Stimmung, die von zahlreichen Schlagwerken noch bereichert wurde. Im Zwiegespräch verbarg die Harfe allzu grelle Farben wie mit einem Schleier, während Konzertmeister Robert Lis im märchenhaften Garten nur eines von vielen gesanglichen Soli an diesem Vormittag hatte.
Pianist Lang Lang ist für seine besondere Gestik und vor allem Mimik bekannt. Ganz so wie einst ist es nicht mehr, etwas speziell sind seine Auftritte dennoch. Allerdings verfügt er über eine stupende Technik, mit der sich bereits effektvolle Passagen wie die Ecksätze in Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur noch einmal steigern lassen, und das mit durchaus musikalischem Gewinn. Zumindest, wenn ihm ein Partner wie Mirga Gražinytė-Tyla gegenübersteht, der die Stimmen und Kräfte so sinnig bündelt. Die exotische Chromatik des Anfangs wurde so süffig aufgefächert und fand immer wieder Anknüpfungspunkte, wie im Allegramente, als sich der Lauf des Klaviers nahtlos in der Harfe fortsetzte. Den vielleicht größten Reiz gewann das Stück, weil es nicht allein vom Feuerwerk des Pianisten lebte, sondern die Dirigentin beständig einen Verlauf formte, Wendungen abrundete.
Am Steinway prangte eine »7«. Hatte das etwas zu bedeuten? In der Zahlensymbolik steht die Sieben für das (mögliche) Erreichen höchster Entwicklungsstufen von Weisheit und Spiritualität. Während Lang Lang das Presto fast schon rockig gelang, blieb das Adagio assai im Vergleich etwas zu milde, seine Zugabe, Claude Debussys »Claire de Lune«, zerbröselte fast an der ausgedehnt langsamen Lesart.
Die Komponisten der zweiten Programmhälfte waren nach Christian Thielemanns Absage geblieben, die Werke wurden andere. Mit Debussy Drei symphonischen Skizzen zu »La mer« und der zweiten Ballettsuite zu »Daphnis et Chloé« von Maurice Ravel Suite waren weiterhin die französischen Farben bestimmend. Sie boten eine Vielfalt, auch wenn manches, wie die zahlreichen Bläser, für ein typisch französisches Idiom stehen. Auf typisches beschränken sollte man sich ohnehin nie – »De l’aube à midi sur la mer« (Morgengrauen bis Mittag über dem Meer) begann mit tremolierenden Streichern, dunkler Farbpallette und Wellenmotiven, die von der Flöte (Sabine Kittel) aufgehellt wurden.
Bei aller Leichtigkeit ließ Mirga Gražinytė-Tyla keine Seichtheit aufkommen – noch das »Spiel der Wellen« und der »Dialog zwischen Wind und Meer« (zweiter und dritter Satz) erfordern einen satten Orchesterklang. Der wurde nicht nur von der Gruppe der Kontrabässe gestützt, sondern von zwei gleichwertigen Harfen (Astrid von Brück hatte die zweite übernommen) bereichert. Immer wieder trat aber vor allem die Cellogruppe hervor, die eine subtile Wagnerischen Düsternis einwoben. Die packende Interpretation wurde schließlich mit »Daphnis et Chloé« von Maurice Ravel aufgelöst, in der sich noch einmal auf ganz eigene Weise flimmernde Lichtelemente und wogender Orchesterklang gegenüberstanden.
19. Mai 2024, Wolfram Quellmalz
Auch im nächsten Sinfoniekonzert der Staatskapelle wird ein Weltklassepianist erwartet: Pierre-Laurent Airmard wird dann mit Myung-Whun Chung (Dirigent) und Cynthia Millar (Ondes Martenot) Olivier Messiaen »Turangalîla-Symphonie« für Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester spielen.