Jahresumschau in der Dresdner Frauenkirche

Kreuzorganist Holger Gehring spielte Jubilare 2024

Es gehört zum Dresdner Orgelzyklus, daß die Organisten der veranstaltenden Innenstadt-Hauptkirchen an ihren eigenen Instrumenten sowie an denen der Kollegen auftreten. Am Mittwoch gastierte Kreuzorganist Holger Gehring an der Kern-Orgel der Frauenkirche und hatte ausschließlich Jubilare auf seinem Programm. Solch äußerlicher Anlaß kann völlig unterschiedliche Stücke zusammenbringen, aber auch innere Achsen offenlegen, die man vielleicht nicht vermutet hätte, vor allem wenn de facto um die 150 Jahre in der Entstehungszeit zwischen solchen Stücken liegen.

Trotzdem überraschte Holger Gehring den einen oder anderen allein schon mit dem Beginn der Programmfolge – stellte er doch das Allegro vivace aus Charles-Marie Widors fünfter Orgelsinfonie voraus, während erst später im Programm Orgelvorspiele bzw. Präludien folgten. Doch der Sinn wurde mit dem Verlauf, spätestens, als Widors berühmtes Opus 42 mit seiner finalen Toccata den Abend beschließen durfte, offenbar. Statt eines an Anfang und Ende aufgeteilten Präludium und Fuge von Johann Sebastian Bach, wie man es mittlerweile häufiger erlebt, dienten einmal der erste und letzte Satz einer Orgelsinfonie als »Klammer«.

Vielleicht sorgte gerade das dafür, daß sich die Ohren besonders auf Stimmungen und Farben »einrichten« konnten? Mit Widor (180. Geburtstag), dunkel und zunächst wie gedämpft klingend, gestaltete Holger Gehring eine Aufhellung und Morgendämmerung, pflegte im Mittelteil bereits luftige Spielfiguren – auch solche sollten im Programm wiederkehren.

Das Offertoire aus Théodore Dubois‘ (100. Todestag) Douze pièces bot – liturgisch mit der Gabe von Brot und Wein verbunden – Licht- und Wasserfiguren, die musikalisch das lebenspendende symbolisierten. Dagegen führte die Fantasia in D minor von Charles Villiers Stanford (100. Todestag) zu Werken, die vorrangig einer Struktur, ähnlich einer Sonate, folgten. Hier freilich verbunden mit einer freien Form und einem wahrlich schönen Schein, selbst wenn der Farbschimmer gar nicht vordergründig wurde.

Während Holger Gehring die Stücke meist durch Pausen trennte, so daß jedes eigenständig blieb, durften Matthias Weckmanns (350. Todestag) ausschreitendes Praeambulum Primi toni mit Anton Bruckners (200. Geburtstag) Fuge d-Moll (WAB 126/1) eine Einheit bilden – beide orientieren sich am Grundton D, der Basis des dorischen Primi-toni-Modus‘. Auf Weckmanns erhabene Strukturschichtung folgte also eine Fuge, die sich den Farben und Schattierungen der Romantik zuwandte – völlig unterschiedlich, und doch wunderbar passend gefügt!

Wie andersgeartet war dagegen das Präludium D-Dur von Franz Schmidt (150. Geburtstag)! Trotz gleichen Grundtons und viel größerer zeitlicher Nähe zu Bruckner wohnt ihm ein ganz anderer Duktus, nämlich der eines Textes (»Halleluja!«), inne, der sich einem Ruf gleich ausbreitete.

Neben liturgischen Werken oder solchen mit liturgischem Bezug gab es eine ganz weltliche Suite: Gabriel Faurés (100. Todestag) »Pélleas et Mélisande«, die hier in der Orgelbearbeitung erklang und zu einem kleinen französischen oder sogar Pariser Schwerpunkt gehörte. Neben den bildhaften Farben enthielte die Suite spielerisch leichte Elementen gerade im ersten Satz, die Widors Allegro vivace zu spiegeln schienen. Nicht zuletzt lag ein Gewinn darin, das Opus 80 einmal ganz zu hören statt im Ausschnitt eines der besonders beliebten Mittelsätze (Interlude und Sicilienne). Klar: »La Mort de Mélisande« (Der Tod von Mélisande) ist kein Titel fürs Wunschkonzert, faßt aber das Drama zusammen und schließt die Suite ab.

Vor dem regulären Schluß gab es ein kleines Extra: Sebastian Pachel, mit dem Holger Gehring im letzten Jahr eine CD aufgenommen hat, war wegen eines gemeinsamen Auftritts in den kommenden Tagen bereits angereist, und so fügten beide der Suite Faurés noch dessen »Notre amour« (aus Trois mélodies Opus 23) in der Fassung für Panflöte und Orgel an. Später bedankten sie sich für den Applaus mit Faurés »Le secret«. Das offizielle Schlußstück, das den Faden vom Anfang aufnahm, war die Toccata Charles-Marie Widors. Und sie war ein Höhepunkt, der die kompositorischen Disziplinen bzw. stilistische Vielfalt verband, schließlich trafen hier französische Orgelsinfonik und klarsichtige Struktur aufeinander. Kein Widerspruch – Widors Toccata ist berauschend, muß aber nicht immer machtvoll brausen. Sie kann aus einem feingliedrigen Aufbau wachsen und noch einmal (wie zu Beginn) die Schönheit der Flöten- und Holzbläserregister vorzeigen, bevor die kräftigeren strahlen dürfen. Das ist kaum weniger beeindruckend als eine machtvolle Überwältigung!

13. Juni 2024, Wolfram Quellmalz

CD-Tip: Sebastian Pachel & Holger Gehring (Jehmlich-Orgel der Kreuzkirche Dresden) »Werke für Panflöte & Orgel«, SACD, erschienen bei MDG

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