Titularorganist Olivier Latry im Gespräch
Olivier Latry haben wir schon bei vielen Auftritten begleitet und mit ihm gesprochen. Mit seinen Residenzen als Titular- bzw. Palastorganist in Dresden wurde er in den letzten Jahren noch wichtiger, und so steht er am 4. September bereits wieder fest in unserem Terminkalender, wenn er gemeinsam mit dem Flötisten Emmanuel Pahud im Rahmen des Dresdner Orgelzyklus‘ im Kulturpalast auftreten wird. Noch wichtiger ist für uns aber ein anderer Termin: am 8. Dezember wird Notre Dame de Paris wiedereröffnet! (Wir hoffen, möglichst viel von den Feierlichkeiten, über die Cavaillé-Coll-Orgel und ihre Titularorganisten (neben Olivier Latry Philippe Lefebvre, Vincent Dubois und seit April dieses Jahres auch Thierry Escaich, berichten zu können). In unseren Orgelrezensionen bisher haben wir schon regelmäßig auf Stéphane Friedrichs Buch »An der Orgel von Notre Dame« hingewiesen – Zeit, es noch einmal unter die Lupe zu nehmen.

In fünf Kapiteln, welche den Abschnitten einer musikalischen Messe folgen, wie sie in der Heiligen Messe aufgeführt werden (Kyrie eleison, Gloria in excelsis Deo, Credo, Sanctus und Agnus Dei), durchstreifen Olivier Latry und sein Gesprächspartner den Weg des Organisten von den frühen Anfängen bis zur Stelle in Paris, die er 1985 antrat. Damals wurden nach dem Tod von Pierre Cochereau gleich vier neue Titularorganisten eingestellt. Außer Olivier Latry waren dies Philippe Lefebvre, Yves Devernay, der bereits 1990 verstarb, sowie Jean-Pierre Leguay, der bis 2016 im Amt blieb (bevor er es mit immerhin 77 Jahren aufgab). Olivier Latry wurde bereits mit 23 Jahren Titularorganist von Notre Dame und war damals der jüngste der vier Organisten. Ein höheres Amt konnte er kaum noch erreichen – hatte er also vor der Lebensmitte bereits den Höhepunkt erreicht?
Leseprobe: Über das Spiel an der Orgel von Notre-Dame
»Ich habe so Wundervolles mit der Orgel von Notre-Dame erlebt! Während der Messen und Konzerte fühlte ich mich mit dem Intrument regelrecht verschmolzen, ich habe jeden Moment genossen. So gerne denke ich an die Nächte zurück, die ich an der Orgel verbrachte, sowie an unsere klanglichen Unterhaltungen. All dies tröstet mich. Ich empfinde tiefe Freude über das Gewesene und blicke bereits erwartungsvoll auf unsere gemeinsame Zukunft«.
In solchen Kategorien scheint Olivier Latry nicht zu denken, selbst wenn er sich des Faktes, der Verantwortung (und sicherlich ein wenig auch der Bürde) bereits damals schon bewußt war. Unprätentiös und einfühlsam schildert er in den Gesprächen einerseits selbstbewußt seinen Lebensweg, der den hochbegabten Pianisten, bald schon Organisten, manche Pfade allein gehen und ihn für außenstehende als Sonderling erscheinen ließ. Andererseits wird klar, wie sehr Olivier Latry das Medium, das Instrument Orgel begeistert, wie er sich mit der Musik, dem Spiel und mit Lehrern (mittlerweile dem Lehren) auseinandersetzt.
Über ein Konzerterlebnis mit dem Pianisten Yuri Boukoff
»Dass ein Musiker es vermochte, solch ein Können auszustrahlen, machte mich nachdenklich. Ich habe seit jeher einen gewissen Wert auf die körperliche Präsenz eines Musikers gelegt. Bei internationalen Wettbewerben errate ich oftmals schon, wie ein Kandidat spielen wird, indem ich beobachte, wie er an der Orgel Platz nimmt. Es gibt keinen Zweifel daran: Man spielt, wie man ist. Sowohl die Persönlichkeit als auch der Charakter eines jeden Musikers spiegeln sich in seinem Auftreten wieder«.
So erfährt der Leser vieles zur Orgel von Notre-Dame, die selbstverständlich keine reine Cavaillé-Coll-Orgel ist, denn einerseits nutzte Cavaillé-Coll der gängigen Praxis folgend und schon aus Kostengründen Material der Vorgängerorgeln (unter anderem François Thierry), andererseits wurden das Instrument und der Spieltisch später weiteren Restaurationen, Umbauten und Ergänzungen unterzogen (Joseph Beuchet 1932, Jean Hermann und Robert Boisseau 1959 bis 1972, weitere Umbauten 1992, 2014 sowie nach dem Brand).
Über das Improvisieren
»In Konzertimprovisationen ist es verlockender, sich mitreißen zu lassen, hier sind Struktur und Dauer also von großer Bedeutung. Von Igor Strawinsky stammt eine ebenso brillante wie humorvolle Formulierung: »Viel zu viele Werke enden lange Zeit nach dem Schluss«. Für Improvisationen ist das einmal mehr zutreffend. Man spielt schließlich zur Freude des Publikums und nicht zu dessen Ermüdung«.
Interessant ist dies gerade deshalb, weil Olivier Latry nicht als Orgelexperte auftritt, der sich auf technische und musikhistorische Fakten stützt, sondern weil er sein Erleben einbringt, etwa die Bedeutung seines Vorgängers Pierre Cochereau, der das Instrument zuvor betreute und Umbauten / Ergänzungen nicht nur anregte, sondern mit projektierte, betont. Andererseits »sieht« Olivier Latry die Orgel immer von ihrer Funktion her, und das heißt nicht allein als Musikinstrument, sondern als Teil der Kirche mit einer Aufgabe in der Liturgie.

Bitte keine Berührungsängste! Auch für nicht bzw. anders konfessionell gebundene oder nicht gläubige Leser, die sich für die Orgel (und ihre Geschichte) interessieren, ist »An der Orgel von Notre Dame« ein Lesegewinn. Natürlich ist und bleibt die Orgel wesentlich mit dem Kirchenraum und mit ihrer Funktion dort, etwa in Gottesdiensten, verbunden. Insofern sind Olivier Latrys Einblicke, in denen er seinen Glauben durchaus nicht nur preisgibt, sondern betont, zeigt, wie wichtig dieser ihm ist und wie er ihn als Organisten beeinflußt, interessant. Jedoch ohne daß hier »missioniert« wird.
Berührender wurde das Buch noch durch die fatalen Ereignisse des 15. April 2019. Die Erinnerungen daran wurden dem eigentlichen Text als Einleitung vorangestellt. Olivier Latry befand sich damals mit seiner Frau auf einer Konzertreise und erfuhr am Telephon vom Brand – bis heute sind diese Aufzeichnungen nicht nur berührend, sondern bewegen zutiefst!
