Johannes-Passion mit Schülern aufgeführt

Bevor das Musikfest Erzgebirge (MFE) am Wochenende zu Ende ging, sorgte es am Freitagabend und Sonnabendnachmittag für einen schon spektakulären eigenen Höhepunkt. »Eigen«, weil keine eingeladenen Gäste im Mittelpunkt standen, sondern an die einhundert Schülerinnen und Schüler der Evangelischen SchulGemeinschaft Erzgebirge in Annaberg Buchholz. Seit zehn Monaten (!) hatten sie sich darauf vorbereitet, an zwei Aufführungen der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach (BWV 245) teilzunehmen. Ein Großprojekt, für dessen Umsetzung nicht nur die finanzielle Unterstützung der Sponsoren, sondern gerade der Einsatz und das Mitwirken des gesamten MFE-Teams wichtig war. Intendant Hans-Christoph Rademann dankte diesem Team und seinem Geschäftsführer Ben Uhle daher vorab, schloß ausdrücklich den Chorleiter der Schulgemeinschaft, Daniel Zwiener, ein.

Und weil es so gelungen war, sollen die Schüler auch ausdrücklich vor den beteiligten Profis genannt werden. Ihre Aufgabe bestand in zwei Dingen: einerseits sollten sie (bzw. der Jugendchor der SchulGemeinschaft) mit dem Chor der Gaechinger Cantorey mitwirken, vor allem aber das Werk der Johannes-Passion durch Tanz ausgestalten. Und hier ist Friederike Rademann (Choreographie) etwas Außerordentliches gelungen: »Tanz« bedeutet in diesem Fall nicht szenische Darstellung oder ein Ballett à la John Neumeier. Vielmehr hatten die Jugendlichen sich – beständig wechselnd – individuell und in Gruppen mit den Szenen auseinanderzusetzen, Deutungsräume zu finden und auszufüllen, jedoch ohne diese zu konkret festzulegen oder gar allein illustrativ zu gestalten. Fragen standen im Mittelpunkt, was angesichts der Tatsache, daß die Johannes-Passion an zwei Stellen den Wahrheitsbegriff hinterfragt, um so passender scheint. Somit gab es Konstellationen, etwa eines Einzelnen (Judas) und einer Gruppe (Jünger), doch waren all diese »Bilder« des Tanzes eine Annäherung, keine absolut formulierte Festlegung. Das beließ die wesentliche Erzählung beim Text und der Musik, band das Geschehen auf der Bühne aber auch eng damit zusammen, war also mehr als nur ein »Hintergrundkommentar«.

Und es blieb lebendig, glaubhaft, authentisch – zwei Stunden lang! Daß die Spannung so lang hielt, lag nicht zuletzt daran, daß es zwar Andeutungen gab, aber keine allein kommentierenden Gesten. Selbst nach der Kreuzigung Jesu, bei Bach lebhaft ausgestaltet (»Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß«), wirkten die vors Gesicht geschlagenen Arme nicht hilflos, sie deuteten an (trotzdem eindeutig), gaben Denkräume frei.

Das verblüffende war, daß die unaufhörlichen, komplexen tänzerischen Abläufe mit vielen Wechseln reibungslos verliefen, ohne daß jemand den Einsatz verpaßt oder eine Orientierung gesucht hätte, ob im Solo oder in Synchronpassagen. Noch einmal zur Erinnerung: es waren Schüler! Normalerweise setzt man bei solchen Projekten zusätzliche Choreographiedirigenten ein, die verborgen von der Seite Hilfestellung geben – hier blieb alles auf den seitlich vor dem Orchester stehenden Dirigenten Hans-Christoph Rademann konzentriert, der die Gesamtleitung innehatte. Da zahlte sich offenbar die intensive Projektarbeit des gesamten Teams aus, das seit dem vergangenen Jahr nicht nur geprobt, sondern Rollen gefunden hatte. Denn jede und jeder sollte und durfte hier im Rahmen seiner Möglichkeiten mitwirken. Um so schöner, daß letztlich nicht nur der Jugendchor, sondern auch die Tänzer die Choräle mitsangen. Und es dürfte schon während der Probenzeit für eine nachhaltige Reflexion gesorgt haben, nicht zuletzt in den Familien. Denn im Publikum war nichts von der sonst oft erlebten Unruhe zu spüren, wenn Eltern und Verwandte den Aufführungen der eigenen Kinder beiwohnen.

Die Spannung und Dichte lag aber in der gesamten Dramaturgie (Jelena Rothermel) begründet, die wirklich alle agierenden zusammenfaßte. Schüler, der Chor der Gaechinger Cantorey und die Solisten waren alle barfuß und mit farbigen T-Shirts (Kostüme: Anne-Marie Miene) bekleidet – teils konnte man die Zugehörigkeit nicht mehr unterscheiden. Und noch die Beleuchtung – sonst oft ein Ärgernis für den Kritiker, wenn ringsum alles triefend in Rot oder Blau leuchtet, war exzellent, auf Helligkeit oder Dunkelheit fokussiert und farblich unauffällig, meist subtil (Bühne: Marie Pfeiffer).

Mit der Gaechinger Cantorey und den Musikern des Internationalen Bachakademie Stuttgart stand natürlich ein Ensemble zur Verfügung, das auch in dem sonst als Turnhalle genutzten Raum Affekte wirkungsvoll auszieren konnte und die Sängersolisten mit den entsprechenden Begleitern (Violine und Oboe bis hin zum Fagott des Basso continuo) unterstützte. Neben Yeree Suh (Sopran), Elvira Bill (Alt) und weiteren Solisten stachen Matthias Winckhler als Christus sowie ganz besonders der melodische Baß von Peter Harvey (Pilatus) und der in der Höhe angenehm leicht vibrierende Tenor von Christopher Paller hervor. Letzterer, sonst im Chor der Gaechinger Cantorey, war sehr kurzfristig als Evangelist eingesprungen. Und noch hier erwies sich die Dramaturgie bedacht, wenn sie den letztgenannten Sängern für Erzählertexte und Arien feste Bühnenpositionen zuwies, ohne dabei statisch zu wirken.

Von diesem Projekt wird den Beteiligten sicher etwas bleiben!
8. September 2024, Wolfram Quellmalz