Helden und Seefahrer oder Reisende und Betrachter?

Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker lassen vergessen, wo man gerade ist

Manchmal überstrahlt ein Partner den anderen; oder er inspiriert ihn, treibt ihn an, versetzt ihn in die Lage, sich weit zu steigern. Manchmal aber verfügen beide Partner ad hoc bereits über jene Portion Extraklasse. So wie Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker. Da kann man glatt vor deren Auftritt in Dresden (Dienstag) nach Hamburg reisen und ihnen in der Elbphilharmonie zuhören, vor allem dann, wenn sie dort ein anderes Programm spielen als im Kulturpalast: Mendelssohn und Strauss statt Schumann und Bruckner.

Am Sonnabend waren die NMB mit dabei, als in der feinnervigen Elbphilharmonie Felix Mendelssohns »Schottische Sinfonie« und Richard Strauss‘ »Ein Heldenleben« erklangen. Feinnervig heißt sensibel – längst hat sich das Publikum darauf eingestellt. Wie bei unserem letzten Besuch war es darauf bedacht, keine übermäßigen Störgeräusche zu verursachen. Und Christian Thielemann versteht es ohnehin, fernnerviges auszuloten, nicht nur spontan einer Laune nachzugehen, sondern zu erspüren, was im Moment besonderes passiert. So kann können sich Aufführungen desselben Konzerts mit ihm durchaus unterscheiden.

Felix Mendelssohns vierte Sinfonie freilich bietet viel »Bildmaterial« und landschaftliches Kolorit. Und Gründe, den Namen zu vergessen – ohnehin ist nur ein kleiner Teil während einer Schottland-Reise Mendelssohns entstanden, während das volständige Werk erst später (in Italien) »nachgezeichnet« wurde. Schottland spürt man in der Elbphilharmonie besonders im ersten Satz, während Vivace und Adagio klar italienische Züge in sich tragen. Doch mit Mendelssohns vierter ist es eine Crux: Der Komponist hat die Sätze zwar attacca notiert, jedoch ist es kein musikalisches Attacca, weil etwa einen musikalischer Gedanke weitergeführt, umwandelt würde oder gar die Sätze nur durch einen Taktstrich getrennt wären. Mendelssohn ging es um etwas anderes – er wollte Applaus zwischen den Sätzen verhindern. Freilich kam der damals aus einem anderen Grund: im 19. Jahrhundert war es durchaus üblich, von neuen (noch nicht fertiggestellten) Werken nur einzelne Teile vorzustellen oder generell Konzertprogramme mit Ausschnitten aus verschiedenen Werken als Pasticcio zu gestalten. Mendelssohns attacca diente also der Fokussierung, das ganze Werk bewußt zu hören.

Musikalisch wie gesagt ist das nachrangig, weshalb die meisten Dirigenten dann doch eine kleine Pause, wenigstens in der Größe einer Fermate setzen, wie wir es immer wieder erleben. Nur leider führt dieser musikalisch nachvollziehbare, musikalisch erwünschte Schritt in der Elbphilharmonie dazu, daß dann doch Zwischenapplaus aufkommt. Allerdings aus anderen Gründen als im 19. Jahrhundert, aus Unbedachtheit und Unwissenheit, was dann doch unerwünschte Störgeräusche verursachte.

Das hinderte aber die rosig-goldene Morgenstimmung noch nicht, mit der die »Schottische« begann. Holzbläser hellten sie zunehmend auf, mit den Blechbläsern und den tiefen Streichern erfuhr das Allegro un poco agitato einen belebenden Puls. Christian Thielemann ließ diesen nicht verbranden, sondern formte daraus ein erfrischendes Wogen – Schottland pur?

Bild von Florenz, Aquarellzeichnung von Felix Mendelssohn. In Florenz zeichnete der Komponist während eines Aufenthaltes 1830 nicht nur dieses Bild, sondern dachte nach seinem Schottland-Aufenthalt 1829 auch seine »Schottische Sinfonie« weiter. Bildquelle: Wikimedia commons

So pittoresk sieht es der Maestro sicher nicht. Feinfühlig lotete er die Striche aus, mit kleiner Geste und noch mehr Augenkontakt. Manchmal scheint es, als treibe er das Orchester vor sich her, meist aber nahm sich Thielemann zurück, sparte mit Bewegungen, dirigierte eher »von unten« mit Andeutungen (und nach unten gerichtetem Stab), und überraschte dann mit einer klaren »Handkante«, die Konturen schafft.

Das Resultat war verblüffend, wie der tänzerische zweite Satz, in dem die zweiten Violinen Linien zogen, die Bläser fast wie in Dvořáks achter tremolierten – herrlich! Auch im dritten Satz schien der Stab oft zu ruhen, was nicht hindert, daß sich die Wiener plötzlich im Choral vereinten. Von hier fanden sie (fast attacca) mit belebendem Stakkato zu einem elektrisierenden, sprühenden Finale.

Wie Mendelssohns »Schottische« hatten wir Richard Strauss‘ Sinfonische Dichtung »Ein Heldenleben« mit Christian Thielemann bereits (mehrfach) erlebt, unter anderem natürlich in Dresden mit der Sächsischen Staatskapelle. Solche Wiederholungen sind aber und gerade mit anderen Orchestern interessant, weil man interpretatorische und andere Unterschiede nachvollziehen kann. Auch Hamburg war durchaus mehr anders, als daß der Dirigent hier von rechts auf die Bühne kam. Hatten wir zuletzt »Ein Heldenleben« als sinfonisches Gemälde wahrgenommen, drängte sich nun der rhapsodische Erzählfluß in den Vordergrund.

Diesen erzählerischen Strom woben die Wiener Philharmoniker mit markantem Faden, da durften die Kontrabässe zu Beginn einmal geradezu ruppig klingen – so schön kann derb sein! Die Holzbläser erzählten reihum »purzelnd« die Episoden des Heldenlebens, dessen wichtigste Passage aber Konzertmeister Rainer Honeck vortrug, dessen Violine nicht nur virtuos funkeln konnte, sondern eine überraschend kadenzartige Freiheit entwickelte – das klang fast, als wäre es im Moment improvisiert!

Ganz anders als bei Mendelssohn und Christian Thielemanns ruhigem, ordnenden Dirigat war er jetzt eindeutig der Fordernde, Treibende, der Former und Gestalter, der Harmoniemusik und Opernidyll herausarbeitet, dem Publikum (und vielleicht auch dem Orchester) Bilder oder Intarsien in dieser Dichtung entdeckte. Umrahmt wurden diese Bilder von den Ranken, die Oboe und Fagott solo oder Violoncelli und Kontrabässe in der Gruppe woben.

Dabei galt wie oben gesagt: nur pittoresk mag es Thielemann ganz bestimmt nicht. Und so blieb das Orchester ein Orchester und kein Verbund von Solisten, und Strauss‘ »Heldenleben« ein organisches Ganzes, aus dem die Tuben in Kupfergold herausleuchteten, das aber in Steigerungswellen gemeinsam das Ziel erreichte.

Am Ende saß der Applaus korrekt, Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker bedankten sich noch einmal mit Strauss, einer Serenade mit fabelhaftem Hornsolo.

15. September 2024, Wolfram Quellmalz

Teil zwei, Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker auf Einladung der Dresdner Musikfestspiele, folgt in dieser Woche.

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