Rhythmische Prägnanz und die Orgel als Orchesterinstrument

Palastorganist Olivier Latry und Dirigent Kahchun Wong bereiteten der Dresdner Philharmonie einen bereichernden Abend

Gleich drei Werke hatten am Sonnabend im Dresdner Kulturpalast eine Kennzeichnung als »erstmalig« von der Dresdner Philharmonie gespielte Stücke. Und alle drei Mal war Palastorganist Olivier Latry beteiligt. »Solist« konnte man dabei gar nicht sagen, denn Marcel Dupré verstand es sowohl in seinem für Orgel und Orchester geschriebenen Werk »Cortège et Litanie« wie auch in jenen Franz Liszts, die er für die gleiche Besetzung eingerichtet hatte (Légende »Saint-François de Paule marchant sur les flots« und Phantasie und Fuge über »Ad nos, ad salutarem undam«), die zahlreichen Register einer großen Orgel mit den vielen Stimmen eines nicht minder reich besetzten Orchesters eng zu vernetzen. Das betraf nicht nur solche »Sonderlinge« wie Harfe oder Celesta, die der Orgel teils gegenüberstanden, sondern ebenso die über viele Oktaven geweiteten Instrumente, die Piccolo, Englischhorn, Baßklarinette und Kontrafagott einschlossen.

Die Dresdner Philharmonie mit ihrem Ersten Gastdirigenten Kahchun Wong und Palastorganist Olivier Latry im Kulturpalast, Photo: Dresdner Philharmonie, © Oliver Killig

Für und mit Olivier Latry öffnete sich dadurch eine weitere Ebene in der Darstellung der Orgel: neben klassischen Werken wie von Mendelssohn und Bach, reinen Orgelsinfonien wie von Widor und Sinfonien bzw. Konzerten mit solistischer Orgel wie bei Saint-Saëns war die Königin der Instrumente hier so dicht mit dem Orchester verwoben wie bisher wohl noch nie in den Programmen. Oftmals lag ihr Anteil darin, eine Bindung herzustellen, eine Stimmung zu schattieren oder sanfte Abrundungen zu schaffen. Dann wieder führte sie ein Thema an, von Pizzicati begleitet, trotzdem hoben Olivier Latry und Dirigent Kahchun Wong gerade teils innige, teils kontrastierende Verwebungen hervor – das Orchester entsprach in seiner Gesamtheit dem, was man bei der Orgel »Plenum« nennt.

Überzeugte Duprés eigene Komposition noch mit einer organischen Logik, traten bei Liszt zunächst die klangmalerischen Aspekte hervor: die Legende erzählt die Geschichte des Heiligen Franz von Paula, der die sturmgepeitschte Meerenge von Messina durchschreitet. Gerade diese Wogen, diesen Sturm hatte Liszt exzellent eingefangen, in Duprés Adaption wurde er am Sonnabend elementar hörbar.

Liszts Phantasie und Fuge nach einem Choral aus Meyerbeers »Le prophète« offenbarte seine ausufernden Formen, ja Liszts kompositorisches Unmaß (möchte man diese Üppigkeit fast nennen) in der Bearbeitung vielleicht noch mehr. Genau genommen sind es sogar drei Teile: Phantasie, Adagio und zwei Fugen in Sonatenhauptsatzform. Den wohligen Klang von Hörnern und Baßklarinette ließ Kahchun Wong nicht alleinstehen, sondern band ihn strukturell ein – eine Fähigkeit, die auch den zweiten Konzertteil prägen sollte.

Die Dresdner Philharmonie mit ihrem Ersten Gastdirigenten Kahchun Wong und Palastorganist Olivier Latry im Kulturpalast, Photo: Dresdner Philharmonie, © Oliver Killig

Zunächst nahm sich Olivier Latry aber noch Zeit für ein echtes Solo: Fast hätte man meinen können, er würde – von Duprés Toccata oder Liszts Formentwicklung angeregt – spontan mit einer weiteren Toccata phantasieren – zuzutrauen wäre es ihm. Der Palastorganist hatte sich aber für eine notierte Toccata aus Léon Boëllmanns Suite gothique (Opus 25) entschieden.

Auf die orchestrale Üppigkeit Liszts folgte nach der Pause durchaus kein Werk sinfonischer Enthaltsamkeit, sondern die vierte Sinfonie von Peter Tschaikowski. Kahchun Wong hatte schon im letzten Sinfoniekonzert mit Antonín Dvořáks Neunter seine Fähigkeit bewiesen, solche »Schlachtrösser« sozusagen als Dressurreiter vorzuführen. Das gelang ihm auch jetzt: mit unauffälliger Geste (sieht man von einem beständig federnden Dirigierstab ab), ohne weit ausholende Bewegungen, gelang es dem Ersten Gastdirigenten immer wieder, die rhythmische Struktur zu ordnen. Variable Tempi, konzentrierte Dynamik, feine Abstufungen – auf Effekt verzichtete der in Singapur geborene praktisch vollkommen. Das Resultat war eine rhythmisch geprägte Vitalität, die mit inneren Qualitäten verzückte. Die Publikumsreaktion war – wie schon im Oktober – Begeisterung.

Kahchun Wong fächerte den Klang des (weiterhin) Orchesterplenums auf, schuf im ersten Satz eine Traumsequenz mit purzelnden Holzbläsern über einem Flageolett – in der strukturierten Wiederholung wurden sie geradezu greifbar, das Satzfinale schien ein Tableau zu öffnen. Das Andantino – wiewohl kein Walzer – lebte von den tänzerischen Elementen, das Scherzo verblüffte zunächst als pointiertes Intermezzo, kurz klangen die Holzbläser wie Richard Strauss, doch mit dem wieder hinzutretenden Blech kehrte der originale Tschaikowski zurück. Auch das Finale, zunächst à la »Un Bal«, offenbarte nach dem Tonartwechsel seine innere Melancholie. Irgendwie unmäßig wie Liszt, aber mit feinem Pinselstrich ausgezeichnet.

24. November 2024, Wolfram Quellmalz

Kahchun Wong kehrt im Juni mit Igor Strawinskis »Feuervogel«-Suite zurück, Palastorganist Olivier Latry ist bereits zum Jahresausklang am Silvestertag wieder da. Dann wird er neben Werken von Dupré und Messiaen tatsächlich improvisieren.

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