Kammermusikreihe des Collegium 1704 im Prager Vzlet endet »dramatisch«
Das »Drama« blieb beim letzten Konzert des Collegium 1704 im Prager Kulturzentrum Vzlet für dieses Jahr gestern zum Glück auf den musikalischen Aspekt beschränkt, war dafür aber um so eindrucksvoller. Gleich in zwei Kantaten klagte Kangmin Justin Kim ^die »crudel« (Grausamkeit bzw. Grausame) an, am Beginn von Carl Heinrich Grauns »Apollo amante di Dafne«, Georg Friedrich Händels HWV 78 trägt sie sogar im Titel: »Ah! Crudel, nel pianti mio«. Den Countertenor hatten wir schon einmal in Dresden erlebt, als 2019 er im Rahmen der Musikbrücke Prag – Dresden an der konzertanten Aufführung von Antonio Vivaldis »Arsilda« (RV 700) beteiligt war. Damals schon war er eine optisch wie klanglich extravagante, eindrucksvolle Erscheinung! Doch Kim kann auch ganz sanfte, melancholische Töne anschlagen, erfuhren wir gestern aufs neue.

Während im Vzlet sonst Musiker des Collegiums in kleiner Formation und mit Freunden als Gästen zu erleben sind, stand es gestern in Kammerorchesterstärke mit Václav Luks am Cembalo auf der Bühne. Der Ensembleleiter kann nicht nur für eine veritable Begleitung am Tasteninstrument sorgen, er nutzte seine Position für eine flexible Führung, mal sitzend, mal stehend, ebenso ein- wie beidhändig.
Als Einstimmung diente die Ouverture aus Händels »Alcina« (HWV 34) – das Werk steht derzeit mit dem Collegium wieder in Brno auf dem Opernplan, Václav Luks und das Collegium 1704 hatten gerade am Vortag eine Vorstellung im Národní divadlo Brno gehabt. Wobei die »Einstimmung« eigentlich schon mit dem Einstimmen begann, zu dem Václav Luks mit ein paar Akkorden aus dem Cembalo bereits für Atmosphäre sorgte. Händels gediegene Einleitung bot viel tänzerisches Kolorit sowie zwei singende Oboen in der Musette (Katharina Andres und Petra Ambrosi).

Natürlich verbirgt sich eine große Ambivalenz hinter dem Begriff »crudel« – Apollo beklagt sich hier, daß sich Dafne seinen Nachstellungen (bzw. der Vergewaltigung) widersetzt und sich in einen Lorbeerstrauch hat verwandeln lassen (!). Die Behandlung des Mythos‘ in der Musik stärkte da die Zuversicht, daß am Ende noch eine Moral folgt. Zumindest muß Apollo seine Niederlage und Zurückweisung akzeptieren …
Der Auftritt Kangmin Justin Kims mit Designersakko unterstrich schon vorab die Extravaganz, die mit dem Countertenor verbunden zu sein scheint. Er vermag derartige Attituden aber mit Leichtigkeit musikalisch-leidenschaftlich auszufüllen. Von feurigem Zorn (Rezitativ »Ferma Dafne crudel«!) bis zu betrübter Wehmut in der Schlußarie spannte er gestern den Bogen in Grauns Kantate. Dazwischen bot er verführerische, fast feminine Klänge (Arie »Tu sarai mio caro allora« / Du wirst mein Schatz sein). Hier lag die Erregung vor allem im Puls der Streicher. Für die auf den Höhepunkt getriebene Verzweiflung Apollos boten Václav Luks‘ Musiker schließlich einen geschmeidigen Klang – wiegend wie die Zweige des Lorbeerstrauches.

Ein Concerto aus dem unerschöpflichen Reichtum Antonio Vivaldis (Concerto per archi RV 157) spielte erfrischend wogend in den Ecksätzen, schmiegsam im Largo, wie die Wellen des Sile oder Canale Grande. Vivaldi stellte dem leichten Spielfluß aber auch einen kernigen Baß bei.

Händels für den Kardinal Pietro Ottoboni geschriebene weltliche Kantate »Ah! Crudel, nel pianto mio« (HWV 78) soll auf den Ariadne-Mythos zurückgehen (oder von ihm inspiriert sein), obwohl der Text (Verfasser nicht sicher) keinen direkten Bezug herstellt. Wie dem auch sei – die wechselnden Emotionen, die Klagen der verlassenen Frau, stellte Kangmin Justin Kim derart einfühlsam und aufwühlend, sinnlich und authentisch dar, daß man sich nicht einem Countertenor oder Altus, sondern einem echten Alt gegenüber glaubte. Oboe (Katharina Andres) und Cembalo waren ihm Duettpartner bzw. unterlegte Stimme. Kangmin Justin Kim nutzte schon kurze Textzeilen, um einzelne Worte hervorzuheben (»Ah, crudel«, später »mi fa cenno«). Für die Zugabe, »Mi lusinga il dolce affetto« aus Händels »Alcina«, schlüpfte der Countertenor – mit einer Rose in der Hand (die von den Blumenkindern zum Applaus verteilt worden war) – wieder ins andere Geschlecht bzw. die Rolle Ruggieros.
20. Dezember 2024, Wolfram Quellmalz