Herbert Blomstedt wieder in den Großen Concerten im Gewandhaus
Die Regelmäßigkeit, mit der Herbert Blomstedt mit dem Leipziger Gewandhausorchester auftritt, seine Beethoven-, Berwald-, Schubert- und Brucknerzyklen aufführt, ist allein schon beeindruckend. Zwar mußte er in der Vergangenheit auch einmal absagen, weshalb ein Teil Berwald und Schubert entfiel, abgesehen davon ist er aber die Stetigkeit und Zuverlässigkeit in Person. Und stützt sich jetzt, nachdem er seine große Bruckner-Gesamtaufnahme im Gewandhaus 2012 vollendet hatte, auf die damals gerade neu erschienene, korrigierte und ergänzte neue Bruckner-Gesamtausgabe.
Am Donnerstag stand die Neunte auf dem Programm. Dem sinfonischen Monument Anton Bruckners in d-Moll (WAB 109) waren diesmal zwei Bezugspunkte vorangesetzt, denn die Frage, wie man zu Bruckner hinführen könne, läßt sich höchst unterschiedlich beantworten. Da Anton Bruckner zu Lebzeiten ein verehrter Organist, vor allem Improvisator war, weshalb von seiner Orgelkunst in den notierten Werken nur ein Bruchteil überliefert ist, sollten Orgelwerke erklingen, die Bruckner vermutlich wohlgefällig betrachtet hätte. Gewandhausorganist Michael Schönheit durfte die erste Konzerthälfte allein für sich und die Schuke-Orgel in Anspruch nehmen und hatte dafür Franz Liszts Variationen über den Chor »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen« aus Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 12 ausgewählt. Liszt hatte das ursprünglich für Klavier entstandene Werk später selbst für die Orgel eingerichtet (S 673). Ob Anton Bruckner, der weit mehr Organist war als Franz Liszt, dem die »Pedalkunst« abging, dies bewundert hätte, darf man freilich in Frage stellen. Als Bach-Bezug mit einem Choral (»Was Gott tut, das ist wohlgetan«) in Mitsing-Qualität war es allerdings hinreichend. Mit Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge Es-Dur (BWV 552) hatte Michael Schönheit außerdem das vielleicht fröhlichste Präludium Bachs ausgewählt und zudem ein Werk, dessen mächtig wachsender Energiestrom tatsächlich als Ankündigung für das folgende Werk verstanden werden konnte.

Nun dürfte man erwarten, daß der Ehrendirigent des Gewandhausorchesters mit der Erfahrung seiner 98 Jahre eine besonders durchdachte, klare Interpretation anstrebt – was durchaus zutraf. Jedoch überraschte, welchen Energiestrom er zu entfesseln wußte! Dabei stand ihm Mathias Müller an den Pauken genau gegenüber – zwischen diesen beiden Polen lud sich Bruckner auf, entlud sich im Orchester zielgerichtet und mit Sinn für Klang und Struktur.
Das war neu: Herbert Blomstedt betrat hurtig, auf einen Rollator gestützt, gemeinsam mit den Orchestermusikern die Bühne, nahm Platz, während das Orchester stimmte, und schon ging es los. Das paßte irgendwie zur Neunten, die nicht unbestimmt herbeigeschwebt kommt, sondern sofort eine Präsenz entwickelt. Die Blechbläser sorgten dafür, dies noch zu forcieren, worauf die Streicher mit wachsendem Vibrato antworteten. Die Blechbläser, nun zum hellen Chor geformt, führten auf einen ersten Gipfel bzw. ein Plateau – das Gewandhausorchester entwickelte eine verblüffende Spannung, die bis zum Ende des Abends halten sollte.
Sie resultierte einerseits aus den immer wieder gegebenen Kontrasten eingewobener Soli, dem Dialog, der zwischen Streichern im Pizzicato und Hörnern entsteht (1. Satz), entstand aber eben auch aus der sinfonischen Grundsubstanz, einem energetischen Fluß, den Herbert Blomstedt beständig am Leben erhiel. Die Pauke wirbelte dabei, kaum spürbar und subtil, im Grundton der Streicher mit oder markierte klangvoll einen Gipfelpunkt. Die deutsche Orchesteraufstellung – bei Bruckner ein wenig überraschend – sorgte für Transparenz.
Das änderte nichts an der Wucht, dem Sturm, den Herbert Blomstedt im Scherzo entfachte! Schon der Beginn gelang in den Streichern elektrisierend, danach schmiedete das Orchester geradezu ein musikalisches Elixier, bei dem die Pauke nun ganz offen die Spitze anzeigte. Nach dem frühlingsgleichen Trio knüpfte das Pizzicato noch einmal am Beginn an – umwerfend!
Diese Qualität der sich gegenüberstehenden und bestärkenden Gruppen von Holz- und Blechbläsern blieb bestehen. Im letzten Satz – tatsächlich mit Wagner-Tuben ausgestattet – erreichte Bruckner kurz eine Wagner-Harmonik, aus der er aber in die Eigenständigkeit zurückfand. Und wieder waren es die Kontraste, wie tiefe Blechbläser und sachte Pizzicati, welche die Spannungsmomente formulierten.
Dabei blieb alles im Fluß, der nun nicht mehr im Sturm, aber kraftvoll getragen ward. Oft verharrt nach solchen Sinfonien der Dirigent minutenlang in Stillhaltepose, diesmal waren es die erhobenen Streicherbögen um Konzertmeister Frank-Michael Erben, die Einhalt geboten – erst dann brach der Applaus los.
19. September 2025, Wolfram Quellmalz