Goldberg-Variationen gestrichen

Kein Ausfall, sondern eine Erweiterung im Marcolini-Palais

Johann Sebastian Bachs »Goldberg-Variationen« BWV 988 sind ein doppelt legendäres Werk – so wie sich hinter der Entstehung eine Legende verbirgt, haben sich die Aufführungen zu Ereignissen entwickelt, von den durchdachten, forschenden Ansätzen Ragna Schirmers oder András Schiffs bis zu den »Performances« eines Glenn Gould. Heute zieht Víkingur Ólafsson mit seiner spannungsgeladenen Interpretation das Publikum in die größten Konzertsäle wie die Elbphilharmonie [NMB berichteten: https://neuemusikalischeblaetter.com/2024/06/25/goldbergs-freie-varationen/%5D.

Es gibt seit einiger Zeit – nicht weniger spannend – außerdem eine Bearbeitung für Streichtrio des Zyklus‘. Am Dienstag vollführte das Vimare-Trio nicht den ganzen Zirkel, schlug aber einen Halbkreis mit zusätzlichen Variationen.

Noch haben die drei Musiker, Johannes Kürschner (Violine), Johann Pätzold (Viola) und Franz Hofreiter (Violoncello), die sich von der Musikhochschule Weimar kennen, woher auch der Name des Trios rührt, keinen eigenen Internetauftritt, aber das kann sich vielleicht bald ändern. Denn ihr Programm war dramaturgisch so reizvoll, wie es die drei auch entsprechend auszuführen wußten.

Der Clou bestand darin, daß sie nicht die ganzen Goldberg-Variationen spielten, sondern genau die Hälfte, diese aber um Solostücke für jedes Instrument erweiterten. Das sorgte nicht nur für Abwechslung, womit ein Publikum über die Bach-Kenner hinaus eingeladen war, sondern schaffte zusätzliche Anreize. Zudem hatten Johannes Kürschner, Johann Pätzold und Franz Hofreiter nicht – wie im Radio oft erlebt – eine Handvoll Variationen nach dem Motto »nun ist’s genug« zusammengestellt, sondern sich an der Struktur des Werkes orientiert, welche in Dreiergruppen aufbaut. Die Einfügungen kamen immer nach dem Canon, der eine solche Gruppe beschließt. Variation Nr. 15, Canone alla Quinta. a 1 Clav., war als kleines Finale durchaus passend – Nr. 16 würde mit einer französischen Ouvertüre die zweite Hälfte der Goldberg-Variationen beginnen.

Eugène Ysaÿe (Portrait von Emil Fuchs, 1900), Tigran Mansurian und Pēteris Vasks, Bildquellen: Wikimedia commons

Was formal also bereits stimmig und durchdacht erschien, wußten die drei Musiker ebenso gefühlvoll auszuleuchten. Dabei schenkten sie den beschwingten, hurtigen Variationen (wie 1, 7 oder 14) ebensoviel Aufmerksamkeit wie den gelassen schreitenden (2, 9 oder 15). Vor allem letztere lohnten immer dann, wenn sie ihre volle Gesanglichkeit entwickelten. Aber auch die schnelleren Variationen folgten nicht einem Anspruch der virtuosen Rasanz, sondern schlossen das Trio in einem elegant bleibenden Bogen, wie in der besonders gelungenen Variation 6 (Canone alla seconda).

Fünfzehn Variationen, fünf Dreiergruppen, dazwischen ließen sich vier Extrawerke einschieben. Das Vimare-Trio verteilte sie gerecht: zwar durfte die Violine zweimal virtuos klingen, Viola und Violoncello nur je einmal, hatten dafür aber die längeren Stücke. »Obsession« aus Eugène Ysaÿes zweiter Violinsonate weitete als erste Einschiebung die Zeit der Musik bis in eine moderne Spätromantik, die eine glasklare Argumentation der Stimme in den Vordergrund stellte. Viola (Tigran Mansurian: »Ode an den Lotus«) und als letzte Intarsie Violoncello (Pēteris Vasks: Grāmata čellam«) bewiesen noch größere Modernität, Expressivität und Dramatik.

Die Ausdrucksstärke des Vimare-Trios beeindruckte neben dem reinen Klang vielleicht noch mehr. Schließlich hatte Franz Hofreiter auch extra zwei Bögen mitgebracht, um für die »ältere« Musik Bachs und die moderne Vasks‘ entsprechend gerüstet zu sein. Johannes Kürschner überraschte an dritter Stelle der Einfügungen mit der »Imitazione delle campane« des Dresdners Johann Paul von Westhoffs, der einen virtuosen »Winterglitzer« entfaltete.

Gelungen war das Programm nicht zuletzt im durchdachten Ablauf, denn die Soloinstrumente der Einfügungen hielten sich in den anschließenden Variationen bei Bach zurück oder mußten ganz aussetzten. So hörte Johann Pätzold nach seinem Solo den Kollegen zu, wie sie die Giga (Variation 7) im Anschluß allein bestritten. Das lenkte die Aufmerksamkeit vielleicht sogar noch mehr auf Bachs Strukturen, denn gleich in der nächsten Variation tauschten die drei munter die Stimmen – immer einer mußte aussetzen, während die jeweils anderen flinke Striche vollführten.

So schloß trotz der Auflockerung am Ende die Wiederholung der Aria einen kleinen Zyklus – solche Programmexperimente dürfen gerne weiter probiert werden!

15. Oktober 2025, Wolfram Quellmalz

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