Werke für Violoncello solo von Georges Aperghis, Mark Andre und Benjamin Schweitzer
Gerade beginnen ganz zaghaft die ersten realen Konzertversuche – nur sie können eine Rettung aus der Virtualität sein. Dennoch kann diese ein Plus bieten: Zwar gebricht es dem Internetstream an Unmittelbarkeit, er gewährt neben der Abstandssorglosigkeit aber ebenso den Brückenschlag über weite Distancen. Das hatte Matthias Lorenz schon zu seinem ersten Koronzert im April festgestellt, und auch gestern kamen nach der Aufführung Grüße aus China via Chat. Auffallend da [im Chat], um einmal mit dem Nebensächlichen zu beginnen, war die Begeisterung, mit der die Zuhörer bzw. Zuschauer dem Konzert folgten. Den Chat als Ersatz für das fehlende Gespräch mit dem Publikum vor Ort einzubinden, lag nahe, und so gab es diesmal eine kleine Pause zwischen den Stücken.
Beide Konzertteile begann Matthias Lorenz mit Georges Aperghis. Die Stücke eins und zwei bzw. drei und vier aus den »Quatre Récitations pour violoncelle« (1980) eröffneten die beiden Hälften. Der »Schnitt« lohnte – einerseits erfordern alle vier Teile im »Paket« eine hohe Konzentration (für Spieler und Hörer), was im Streaming vielleicht noch mehr beansprucht, andererseits haben sie Eigenständigkeit genug, um diese Zweiteilung zuzulassen.
Aperghis, der viele Musiktheaterstücke geschrieben hat, ist es gewohnt, Bezüge zwischen Text und Musik herzustellen, sucht in seiner Instrumentalmusik oft nach Verbindungen zu Bildenden Künsten oder theatralen Effekten, woraus sich besondere Klangsituationen ergeben. Die Récitations sind strukturell reiche Gebilde, die mit Grundformen, Tonfolgen und Intervallen »spielen«. Gerade die erste beeindruckte mit dem Wandel von Sequenzen, wobei Mittel und Aufwand minimal scheinen (ohne hier Minimal Music zu kategorisieren), aber erstaunliche Wirkung zeitigen, wie allein durch Ton- bzw. Sequenzlängen und (Unter)brechungen, womit Aperghis ein Gefühl von Beschleunigung oder Verlangsamung erzeugt. Die zweite Récitation brachte einen geradezu maschinellen Sound hervor bzw. eine Persiflage desselben, was an Beethovens Scherzo in der 8. Sinfonie erinnerte.
Mit Mark Andres Stück »E« (E als physikalisches Symbol für Energie) gab es an diesem Abend einen herausragenden Spannungshöhepunkt. Auch hier könnte man ein »maschinelles« Element ausfindig machen, denn der Puls, mit dem Andre sein Stück vorantreibt, den Cellisten zupfen, streichen, klopfen, »E« sagen läßt, scheint metronomisch exakt. Und doch entwickelte sich daraus kein Gleichmaß, sondern ein stetiger Wandel, wenn streichen, reiben, klopfen … nach- und nebeneinander, phasenverschoben ineinander übergingen. »Es atmet« schrieb eine Zuhörerin erfreut – exakt!
Verblüffend war, mit welcher Leichtigkeit Matthias Lorenz die Stücke spielte, als wären sie kinderleicht und kein bißchen vertrackt. Dabei spannt gerade Mark Andre den Bogen sozusagen bis zur Berstgrenze, belebt sein Stück aber zwischendurch mit fast volkstümlichen Rhythmen, ohne freilich den Puls aufzugeben – großartig!
Da kann man sich nur freuen und hoffen, daß »E« bald wieder im realen Konzertraum erklingen wird. Die Aussichten dafür stehen sicher nicht schlecht, denn Matthias Lorenz führt viele der Werke wieder auf, wie Benjamin Schweitzers »Drift«, das er 2017 uraufgeführt hatte.
Nachdem Georges Aperghis mit den Récitations drei und vier den zweiten Konzertteil extrem energievoll eröffnet hatte, durfte Benjamin Schweitzers Stück noch einmal driften – stetige, sich langsam vollziehende Veränderungen, die am Ende zu großen Metamorphosen führen.
Wie schon im April bat Matthias Lorenz um ein virtuelles Eintrittsgeld, wovon er einen Teil für einen guten Zweck abführen wird. Diesmal unterstützt er die Arbeit des COVID-19 Solidarity Response Fund der WHO. Wer mag, kann sich daran noch beteiligen, denn auch das Konzert ist zum Nachsehen und -hören auf YouTube verfügbar. Zum Video, zum Programmheft und weiteren Informationen gelangen Sie unter »Ausblick« bzw. »Rückblick« hier:
6. Juni 2020, Wolfram Quellmalz
nächste Konzerte von Matthias Lorenz:
5. Juli 2020, 18:00 Uhr, Dresden Projekttheater und 7. Juli 2020, 19:30 Uhr, Leipzig Stadtbibliothek: Fokuskonzert 1, das Neue Klaviertrio Dresden spielt Werke von Michael Wertmüller (the great acceleration), Stefan Streich (Clouds 10), Jürg Frey (Paysage pour Gustave Roud) und Stefan Streich (Vier Bagatellen)
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