Collegium Vocale 1704 und Collegium 1704 sorgen für Glücksgefühle in der Dresdner Annenkirche
Ja, was war denn da eigentlich »substantielles« da, gestern abend in der Annenkirche? Keine berühmten Solisten, keine dramatischen Werke mit emotionsgeladener Handlung – einfach nur sakrale Werke von Francesco Cavalli, Claudio Monteverdi und Giovanni Felice Sances. Preisungstexte, Glaubensbekenntnisse, eine (knappe) Messe – liturgische Alltagskost, könnte man meinen. Doch wer so meint, der irrt!
Klüger ist bekanntlich, wer sich informiert, wer nachfragt, -liest oder zuhört. Und wo könnte man das schöner als in der Annenkirche? Vor allem: mit wem? Václav Luks vollführte wieder einmal das Kunststück, hier Musik zum Leben zu erwecken (die Vokabel »spielen« beschreibt es völlig unzureichend), die es wert ist, gehört, betastet, geschmeckt zu werden. Das Venedig der Renaissance, die entstehende Mehrchörigkeit war erneut zentraler Dreh-, Angel- und Spielpunkt –in den venezianischen Chiesa entstand einst doch die Mehrchörigkeit. Diese läßt sich aber auch in einer vergleichsweise kleinen (dennoch wunderschönen) Kirche mit einem »herkömmlichen« Längsschiff darstellen. Mag die Architektur einst Anregung, Inspiration und Auslöser gewesen sein, den lebendigen Impuls erhält die Musik letztendlich von den Ausführenden, vor allem den Sängern. Und die zeichnete eine superbe, warme Sinnlichkeit aus, gleichzeitig fügt sich das Collegium Vocale 1704 nicht aus prototypischen, angeglichenen und ausgerichteten Sängern zusammen, sondern aus höchst individuellen. Das erhöht einerseits den Reiz der Soli, differenziert Kontraste und Duetten und schafft changierende Effekte in einem dennoch homogenen und verständlichen Chor. Letztlich besteht er aus fünfzehn Primi inter pares. Dennoch ragt mancher hier und da besonders heraus (was aber auch der individuellen Zuhörsituation unterworfen ist), wie an diesem Abend der goldene, tragende Baß von Tomáš Šelc.
Das instrumentale Collegium steht dem um kein Jota nach – im Gegenteil. Schon in Francesco Cavallis »Lauda Jerusalem a 2 cori« zeigte, daß sich »Mehrchörigkeit« nicht auf den Chor allein beschränkt, sondern alle Stimmen einschließt. So unterstützten die Posaunen zunächst den Chor, als gehörten sie zu den Singstimmen, um sich kurz darauf mit den veritablen Zinken, die ohnehin charakterliche Wandlungskünstler sind, im Jubelton aufzuschwingen. Hier wurde nicht einfach ein Text dargeboten (und musikalisch unterstrichen), er wurde lustvoll ausgekostet, mit Effekten besetzt, die neben dem lichtvollen Hoch auch feine, Sublime Partikel zu finden schienen und den Zeilen »Er läßt Seinen Wind wehen, | dann rieseln die Wasser« eine poetische Tiefe verliehen. Was mögen die Leute damals empfunden haben, als sie solche Musik nicht im Konzert, sondern im Gottesdienst oder in der Messe gehört haben?
Oder wenn Claudio Monteverdis Beatus vir a 6 und Gloria a 7 voci (aus den Selva morale e spirituale) über einem tänzerisch-rhythmischen Grund à la Passacaille schwebten? Solche mitreißenden Rhythmen und Schwebungen zumindest ließ das Collegium Vocale 1704 mühelos in den Raum strömen.
Mit Giovanni Felice Sances’ Missa Sanctae Mariae Magdalenae gab es schließlich das Werk eines fast vergessenen Komponisten. Fast – Gottlob! – Václav Luks hat ihn nicht vergessen. In variablen Tempi und kleinen, betonenden Pausen wurde auch hier der bekannte Messetext belebt, vom hymnischen Kyrie-Jubel des Anfangs bis zum Dona nobis pacem. Wie schön daß dieses »Gib uns deinen Frieden« in einem Konzert, dessen Erlös der Sammlung SOS Ukraine zugute kam, so hoffnungsfroh war und nicht der Ruf bereits niedergedrückter Menschen. Ein passendes Schlußwort!
24. März 2022, Wolfram Quellmalz
Schon in wenigen Wochen geht es weiter: Am Mittwoch der Karwoche steht Johann Sebastian Bachs Johannespassion (BWV 244) auf dem Programm der Musikbrücke Prag – Dresden. 13. April, 19:30 Uhr, Annenkirche Dresden, Václav Luks, Collegium Vocale1704, Collegium 1704, Solisten, mehr unter: collegium1704.com