Schöner Kopfstand

Mirga Gražinytė-Tyla und Rudolf Buchbinder im Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle

Mit der Absage des Silvesterkonzertes bei der Sächsischen Staatskapelle durch Franz Welser-Möst kam es zu einem Ringtausch der Dirigenten: Tugan Sokhiev arrangierte seine Termine neu und übernahm die Vakanz am Jahresende, dafür wurde sein Termin im November frei für Mirga Gražinytė-Tyla. Die Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra setzte zudem mit den Werken neue Akzente: aus Mozart und Schostakowitsch wurde Weinberg – Beethoven – Vaughan Williams, Rudolf Buchbinder blieb Solist in der Semperoper.

Und dann stellte die junge Dirigentin, die Dresden schon einmal zu den Musikfestspielen mit ihrem BSO erobert hatte, auch noch das Programm auf den Kopf und die Sinfonie voran. Wohl, um Mieczysław Weinberg noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Seine dritte Sinfonie wächst aus der Ruhe, gleichzeitig zeigte das Wiederhören am Sonntagmorgen, daß sich die Freundschaft mit Dmitri Schostakowitsch musikalisch kaum niedergeschlagen hat, viel eher die Zeitgenossenschaft. Darüber hinaus kann, ja muß man Weinberg seine Eigenständigkeit belassen – sie ist entdeckenswert!

Mirga Gražinytė-Tyla am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Photo: Sächsischen Staatskapelle Dresden, © Markenfotografie

So wie die Sinfonie aus der Ruhe geboren wurde, schien Mirga Gražinytė-Tyla das Werk sorgsam zu hüten. Ein feiner Strom, der in den Holzbläsern begann und von den Streichern fortgeführt wurde, bis es im ersten Satz einen großen Tutti-Höhepunkt gab. Die Staatskapelle blieb bei ihrem lichten Klang, ließ das Allegro im Dämmer ausklingen.

Auch die Binnensätze, die sich aus einem feinen Staccato entsponnen, leitete die Dirigentin mit verhaltener Geste, was die Konturen aber noch um so genauer herausstrich. Das an dritter Stelle folgende Adagio glich einer weiten, geschlossenen Schneedecke, die erst durchbrochen werden mußte. Erneut ging der Impuls von den Holzbläsern auf die Streicher über. Die Leuchtkraft der Klarinette legte den Weg offen, aus dem im Schlußsatz eine furiose Jagt folgte – hier, und nur hier lag eine Verwandtschaft zu Schostakowitsch.

Mit dem ersten Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven nach der Pause begann ein fruchtbarer Austausch und Wechsel, einerseits zwischen Solist und Dirigentin, andererseits – als direkte Folge – zwischen Solo- und Orchesterpassagen. Die feine Zeichnung – vor allem in zweiten Satz fast kammermusikalisch – blieb erhalten, die ausdrucksstarken Tutti wirkten erfrischend! Dazu ließ Mirga Gražinytė-Tyla das dialogische Prinzip in seiner Vielfachheit gewähren, noch in den Kontrabässen lagen die Antworten auf manche Themenvorgabe, den Nachdruck unterstrich das Schlagwerk. Der frühe Beethoven hatte Rudolf Buchbinder für einmal nicht solche Freiheiten eingeräumt, die er sonst gerne nutzt, um in den Kadenzen »abzubiegen«, da hätte man eigentlich auf eine ausgleichende Zugabe gewartet. Doch zumindest am Sonntag und zur fortgeschrittenen Mittagsstunde gab es diese nicht.

Statt dessen aber eine Konzertouvertüre – warum Ralph Vaughan Williams‘ »Fantasia on a Theme by Thomas Tallis« am Schluß stand, bleibt unklar. In Sachen Ruhe und Öffnung wäre der Anfang wohl besser gewesen, was am Genuß aber schließlich nichts änderte: leise schlich sich die Phantasie herein, begann mit einem Consort, das die Staatskapelle ebenso überzeugend darstellte, wie sie als in drei Ensemble geteiltes Orchester Tallis Thema organisch fügte und mit Vaughan Williams‘ romantischer Ausstrahlung versah. In diesem Amalgam verschmolzen die Streicherschließlich auf verblüffende Weise in einem Orgelklang.

19. November 2023, Wolfram Quellmalz

https://www.staatskapelle-dresden.de

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