Schon wieder eine Sternstunde?

Collegium 1704 verzaubert zuverlässig das Publikum in der Annenkirche

Es scheint unglaublich, und der Rezensent fragt sich beim Schreiben, wieviel Superlative verwendet werden dürfen, bevor sie unglaubwürdig werden – in bezug auf die Glaubwürdigkeit eines Textes heißt es, vorsichtig zu sein. Versucht man jedoch, das gestern (wieder) erlebte in Worte zu fassen, kann man kaum weniger als die Sterne, den Himmel oder Gott-weiß-wen bemühen, um wenigstens einigermaßen zu vermitteln, was sich in einem Konzert des Collegium 1704 abspielt. Da muß sich ein Chinesisches Feuerwerk schon sehr bemühen, um spektakuläreres und beeindruckenderes aufzubieten …

Dabei hatte in der Dresdner Annenkirche kein dezidiert weihnachtliches Stück auf dem Programm gestanden. Im Gegenteil ist Jan Dismas Zelenkas Missa Corporis Domini (ZWV 3) dem Namen nach eine Fronleichnamsmesse, ihre genaue Entstehung und Verwendungszweck sind allerdings nicht gesichert. Dem Fronleichnamsbezug scheint schon die überwältigende Festlichkeit der Komposition zu widersprechen. Überhaupt fragte man sich beinahe fassungslos, wie es denn sein kann, daß dieses Werk bisher unbekannt oder verkannt, auf jeden Fall noch nicht gespielt wurde. Keinem Alte-Musik-Ohr darf man so etwas vorenthalten! Prunkvoll und affektreich begann es mit einem Vierklang der Violinen, der zunächst freilich »abwärts« lief, fleißig moduliert wurde, aber bereits eine überbordende musikalische Schönheit offenbarte. Und das galt nicht nur für die konzertierenden Instrumente (neben den Violinen vor allem Oboen), sondern auch für die formidable Continuogruppe um Pablo Kornfeld (Orgel) und Jan Krejča (Laute).

Man muß lange suchen, um ein festlicheres Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison zu finden, als es Jan Dismas Zelenka in seiner Missa Corporis Domini verwendet hat. Bereits hier war der Rhythmus (Christe eleison) von einem betörenden Ostinato getragen, das fast danach rief, getanzt zu werden! Vergleichbares kehrte später mehrfach wieder (Laudamus te / Wir loben dich).

In den oft gar nicht langen Sequenzen gab es viele Affekt- und Temperamentwechsel. Ruhigem Schreiten folgte bald schon wieder ein Feuer der Zuversicht. Václav Luks führte Chor und Orchester gewohnt sicher einen Pfad der Empfindungen entlang, der eine genaue Konturierung herausstellte, die Überzeichnung aber vermied. Zur Geschlossenheit trotz aller Wechsel trug erneut bei, daß (wie oft beim Collegium zu erleben) die Solisten aus dem Collegium Vocale 1704 hervortraten.

Als wäre man von Werk und Aufführung noch nicht genug beeindruckt, hatte Jan Dismas Zelenka im Agnus Dei sowie im abschließenden Dona nobis pacem die Gregorianik aufgegriffen, aber nicht wie sonst oft in geschlossenen Versblöcken vorangesetzt, sondern die Zeilen direkt mit eigene Vertonungen verschlungen. Das ging wohl jedem »unter die Haut«!

Zuviel Superlative? Dann müßte ich hier abbrechen, denn wie sollte man Johann Sebastian Bachs Magnificat (BWV 243) beschreiben? Die Lobpreisung begann mit einem nun um Flöten, Blechbläser und Pauken erweiterten Orchester, das sogleich ein »kleines Weihnachtsoratorium« anstimmte. (Wann bitte gibt es das »große« wieder? Die letzte geplante Aufführung ging Dresden pandemiebedingt verloren.) Die Soli von Katharina Andres (Oboe) und Julie Braná (Flöte) bzw. die Duette mit ihren Pultnachbarinnen gehörten auch im weiteren Verlauf zu den instrumentalen Höhepunkten, nicht weniger das Trompetentrio um Almut Rux.

Oder die Gesangssolisten – wann hat man schon einen Chor, bei dem man fast jeden Sänger individuell heraushören kann, der aber trotzdem ein geschlossenes Erscheinungsbild bietet? Dem Omnes generationes (selig alle Geschlechter) verlieh er größte Überzeugungskraft, das Fecit potentiam (Er vollbring in seinem Arm) pflanzte er das Feuer der guten Tat ein. Herrlich auch, diese Solisten zu vergleichen: den gestern sehr weichen Sopran von Pavla Radostová etwa und jenen glasklaren von Tereza Zimková. Mild leuchtend trat Kamila Mazalovás Alt hervor, während Tenor Ondřej Holub seine Wandlungsfähigkeit bewies: mit Aneta Petrasová fand er erst zu einem innigen Duett (Et misericordia / Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht) zusammen, um kurz darauf (Deposuit potentes / Er stürzt die Mächtigen vom Thron) größten und strahlendsten Nachdruck zu entwickeln. Kaum weniger beeindruckend war das Quia fecit (Denn der Mächtige hat) von Tomáš Šelc (Baß) ausgefallen.

Die Lobpreisung führte über eine Chorfuge (Gloria Patri / Ehre sei dem Vater) in einen Schluß, der an Pauken, Chor und Orchester keine Wünsche offenließ. (Außer vielleicht dem Weihnachtsoratorium.) Da mußte Václav Luks schließlich doch zwei Ausschnitte beider Werke noch einmal wiederholen.

19. Dezember 2023, Wolfram Quellmalz

Ein Neujahrskonzert des Collegium 1704 gibt es leider nicht mehr. So müssen wir uns bis zum nächsten Konzert am 29. Februar gedulden. Ein besonderes Datum erfordert ein besonderes Programm – am Schalttag stehen Ludwig van Beethovens »Eroica« sowie Paul Vranickýs Sinfonie d-Moll »La Tempesta« auf dem Programm. Achtung! Das Konzert findet in der Lukaskirche statt!

Noch kein Weihnachtsgeschenk? Dann sei Ihnen dringend »Il Boemo« ans Herz gelegt! (Rezension in Kürze)

Mysliveček – Il Boemo«, mit Philippe Jaroussky, Emöke Barath, Sophie Harmsen, Krystian Adam, Collegium 1704, Václav Luks, erschienen bei Erato

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