Neuer Doppelabend an den Landesbühnen Sachsen
Die Landesbühnen Sachsen haben mit ihrem Kooperationspartner Elbland Philharmonie Sachsen bereits einige Doppelabende mit Kurzopern oder Einaktern auf die Bühne gebracht, die einander ergänzten, kommentierten, konterkarierten. Zu den schönsten gehörte 2021 / 22 wohl Sebastian Ritschels »Inselzauber« (Offenbach und Bernstein), der nach der Pandemiezeit den Weg vom Streaming ins Repertoire fand. Manchmal sind sich Stoffe nahe, während die Werke doch Gegensätze offenbaren. Nun band Carmen C. Kruse Philippe Boesmans »Julie« und Francis Poulencs »Les mamelles de Tirésias« zu einem »Abend in zwei Träumen«.
DIE STÜCKE
Gemein ist beiden Stoffen nicht nur ihre Entstehungszeit am Ende des 19. Jahrhunderts, sondern die Hinterfragung der gesellschaftlichen, also auch Geschlechterrollen. Die Stücke sind damit ebenso aktuell wie sie uns wegen ihrer Herkunft zuweilen fern scheinen.

Philippe Boesmans »Julie« greift August Strindbergs »Fräulein Julie« auf (Libretto: Luc Bondy). Julie, Tochter von Gutsbesitzern, provoziert und lockt, neckt erst den Diener des Hauses (Jean), verbringt dann eine rauschhafte Nacht mit ihm, was die Verhältnisse auf den Kopf stellt. Jean und Julie können nicht gemeinsam fliehen, denn Julie verfügt nicht über eigenes Geld. Kristin, die Köchin des Hauses und Verlobte Jeans, erlebt all dies mit, steht scheinbar teilnahmslos daneben – Julie schlägt ihr gar eine Flucht zu dritt vor (!). Doch weder zu dritt noch zu zweit – zur Flucht sieht sie letztlich keine Chance und wählt den Suizid.
Wieviel »einfacher« haben es da Thérèse und ihr Mann (Le Mari) in Guillaume Apollinaires »Les mamelles de Tirésias«, das Francis Poulencs gleichnamiger Kurzoper zugrunde liegt: Thérèse, ihrer Rolle überdrüssig, legt ihre Brüste ab und läßt sich einen Bart stehen. Anders als in der antiken Komödie »Lysistra«, in der sich die Frauen den Männern verweigern und keine Nachkommen (Soldaten) mehr gebären, wird Tirésias Mann zum Vater tausender Kinder (aber keiner Soldaten), die er ohne Frau »zeugt«. Im fernen »Zanzibar« scheint alles möglich – oder ist es nur ein Traum?
KONTRASTIERENDE INSZENIERUNG
Die Geschlechterrollen werden vor der Pause nüchtern, danach um so bunter und schriller hinterfragt. Interessant ist vor allem der erste Teil, der sich nicht wenig von Strindbergs Vorlage unterscheidet. Während dieser psychologisch erzählt und sich das Stück bis zu Julies Frage, was sie machen soll (Weiterleben oder sterben? Bleiben oder fliehen?) zuspitzt, wirkt Poulencs Erzählsprache eher nüchtern und kühl. Ralph Zeger hat für Carmen C. Kruses Inszenierung eine meist graue Umgebung geschaffen, nur manchmal leuchtet der Hintergrund farbig. Eindrucksvoll und graphisch weit reizvoller als eine symbolhafte Darstellung gelingen die Schattendoubles von Jean und Julie, ein blätterrauschender »Liebessturms« überzeugt ebenso.

Mit Paul Gukhoe Song (Jean), Stephanie Atanasov (Julie) und Anna Maria Schmidt (Kristin) ist das Duo-Trio (Kristins Anteile mögen klein sein, sind aber entscheidend) absolut stark besetzt und unterstreicht nicht nur emotionale, sondern ebenso subtile Nuancen. Das gilt ebenso für den geänderten Fokus: während Strindberg (zunächst) gesellschaftliche Schichten gegenüberstellt, treten bei Boesmans individuelle Geschlechterrollen deutlicher hervor (also auch der Grund, weshalb Julie über kein Geld verfügt).

Julies Leichnam liegt zu Beginn des bunten zweiten Teils Thérèse im Wege und verbindet die Stücke. Mit Poulencs lebhafter Musik werden die Farben kräftiger, surreal, vielfältig, uneindeutig – die Kostüme scheinen austauschbar, werden geschlechtsunspezifisch. Allerdings ist der Stoff nicht immer leicht faßbar, schon allein, weil uns durch den Ursprung (Sprache und Zeit) heute mancher Wortwitz verlorengeht. Die »Männerberufe«, die Thérèse, nun als Tirésias, ergreift, werden längst nicht mehr so wahrgenommen. Jüngere Besucher (also auch Besucherinnen) können das vielleicht nicht nachvollziehen. (Allerdings wären sie die richtigen für die »Moral« der Oper bzw. den Appell ans Publikum, sich zu vermehren.) Die Genderbezeichnungen in den Übertiteln wiederum mögen (heute) zum Kontext passen, entsprechen dem ursprünglichen Text aber nicht. So geht nicht nur mancher Witz verloren, in der zweiten Vorstellung vor einer Woche (27. Januar) schien der Funke zudem nicht recht überzuspringen.

Mehr noch als bei Philippe Boesmans bekommen die Akteure bei Poulenc Gelegenheit zu Rollenausdeutungen in Spiel und Wort. Franziska Abram (Tirésias) und Dániel Foki (Le Mari) fechten ihr Duell nicht offiziell aus, sondern gehen in der Unabhängigkeit von Tirésias und Le Mari auf. Ein Duell (auch zwischen den Städten Paris und »Zanzibar«) findet dafür zwischen den Herren Lacouf (Kay Frenzel) und Presto (Michael König) statt. Gabriel Alexander Wernick, offiziell der Theaterdirektor, der das Stück eröffnet und beschließt, ist passenderweise in ein Harlekinkostüm gekleidet.
So wie sich die Bühne wandelt, formt Ekkehard Klemm mit der Elbland Philharmonie farblich unterschiedliche Welten, die einmal nüchtern und kammermusikalisch, dann rauschhaft und schrill klingen können. Das Orchester begeistert mit Opulenz ebenso wie mit Feinfühligkeit.
29. Januar 2024, Wolfram Quellmalz
Wieder im März: Philippe Boesmans »Julie« und Francis Poulencs »Les mamelles de Tirésias«, Landesbühnen Sachsen (Bühne Radebeul)