Collegium 1704 fegte durch die Lukaskirche
Haben Sie diesen »Sturm« etwa verschlafen? Gestern boten Václav Luks und das Collegium 1704 wieder einmal unerhörtes in der Dresdner Lukaskirche. Manche Musikfreunde bedauern es ja, wenn einmal kein Barockstück auf dem Programm steht oder der Chor fehlt. Das sollte aber niemanden abhalten, trotzdem zu kommen – das Erlebnis Collegium 1704 gleicht es allemal aus! Wer noch beim Herbstkonzert im Oktober meinte, Chopins Klavierkonzert sei doch als Werk im Orchester arg schlicht, wurde damals schon mindestens mit einer großartigen sinfonischen Entdeckung von Jan Václav Hugo Voříšek belohnt. Gestern gab es die Belohnungen gleich doppelt: während Pavel Vranický (Paul Wranitzky) den meisten nur als Dirigent geläufig gewesen sein dürfte, erwies sich auch Beethoven gewissermaßen als Neubegegnung, denn so hat man ihn wohl noch nie gehört. In Sachen Begeisterungspotential machten sich Vranickýs d-Moll-Sinfonie und Beethovens dritte absolut den Rang streitig, was man schon daran erachten konnte, daß nach dem Konzert beim Publikum verschiedene Meinungen gab, ob die gewählte Reihenfolge der Stücke – Vranický vor Beethoven – die richtige gewesen sei oder ob nicht Pavel Vranický seinen Kollegen hinsichtlich des Effekts sogar übertroffen und damit den krönenden Abschluß hätte darstellen sollen.
Natürlich haben beide »Parteien« recht, Václav Luks aber noch mehr. Denn bei (noch) genauerer Betrachtung (oder Behörung) kann man frohen Herzens zugeben, daß Pavel Vranickýs Sinfonie einen ungeheuren und nachhaltigen Effekt macht, mit Einfallsreichtum, Sinnlichkeit und Ausdruckskraft Vergnügen bereitet (und sich die Frage stellt, warum er so lange praktisch unbeachtet blieb), die sinfonischen Bezüge, Verflechtungen und Verästelungen bei Beethoven aber trotzdem meisterlicher sind. Die Erfahrung lehrt, daß solche Kunst vorangestellt das nachfolgende Werk herabsetzen kann (wir erlebten es einst mit der unglücklichen Folge Brahms III vor Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1).
Also Vranický zuerst, vollkommen richtig! Die d-Moll-Sinfonie begeisterte mit reichlich Theaterdonner und sinfonischer Qualität. Wo gibt es das schon, eine Sinfonie mit dem Beinamen »La Tempesta« (Der Sturm)? Das Collegium 1704 war in der bisher wohl größten Besetzungsstärke nach Dresden gekommen und ließ es schon im ersten Satz knistern (dabei bezieht sich »La Tempesta« erst auf den dritten). Zwischen Streichern, Bläsern und einem reichen Schlagwerk spannte das Collegium ein Parforce-Vivace auf, neben dem so mancher Sinfoniebeginn erblaßt. Vielleicht war ja ein Stück von Vivaldis Geist darauf übergegangen? Pavel Vranický schrieb das Werk dort, wo ein halbes Jahrhundert früher der geniale Venezianer verstorben war – in Wien. Die Dreisätzigkeit (ähnlich Vivaldis Concerti) war neben der Sturmdarstellung noch ein Merkmal, das beide verband.
Dabei war vielleicht gar nicht der effektvolle Schluß, sondern das Adagio der genialste Einfall des Komponisten – wie Samt und Seide schimmerten zunächst die Streicher, die con sordino (mit Dämpfer) einen zauberhaften Glanz verbreiteten – wäre Beethoven neidisch gewesen? Anders als in Beethovens Pastorale kamen die Zuhörer nicht auf dem Lande an, sondern erlebten dortselbst die Morgendämmerung. Die Bläser, die zunächst geschwiegen hatten, flochten ihre Stimmen zunächst (wie erwachende Vogelrufe) ein, um später – nun aber vollkommen ohne Streicher – das Thema fortzusetzen. Rechtzeitig vor dem Finale waren Bläser und Streicher wieder vereint.
Denn jetzt tobte ein Sturm wirklich los – wie schön sind Stürme doch, wenn sie nicht zerstören, sondern »betrachtet« werden können! Mit Windmaschine (beste Grüße an Richard Strauss) und viel Schlagwerk gab es aber nicht nur gehörigen Effekt, Václav Luks formte auch ein Tutti, das beeindruckende Feuerstöße hervorbrachte. Mit den Hörnern legte sich der Sturm – das Idyll blieb.
Danach Ludwig van Beethovens »Eroica«. Zurücklehnen nach dem »überstandenen« Sturm? Nichts da! Denn Beethoven und das Collegium zeigten, was ein Allegro sein kann – hier trafen Sturm und Idyll aufeinander, so prominent sind die Trompeten kaum einmal zu erleben. Und den Trauermarsch des zweiten Satzes hat man so (abgründig und tief) wohl noch nie gehört. Ganz sinnlich eingeschoben wiederum finden sich darin fugierte Passagen, die Licht spenden – ein Trauerzug mit Hoffnung.
Wie groß (Effekt beherrscht Beethoven eben auch) war danach der Unterschied beim Scherzo – nicht mehr nur ein Lichtversprechen, sondern der Puls des Lebens sprühte hier – das ging nicht nur unter die Haut, das traf ins Herz! Der Sturm fegt also ebenso durch Beethovens dritte, ließ Flöte (Julie Braná) und Oboe (Katharina Andres) blitzen – Funken der Aufklärung?
1. März 2024, Wolfram Quellmalz

Hornist Erwin Wieringa hatte im Konzert viele schöne Passagen begleitet. Er spielt auch eine entscheidende Stimme in der Arie »Palesar vorrei col pianto« aus Josef Myslivečeks Oper »Il Bellerofonte«, zu finden auf »Il Boemo«, CD des Collegium 1704 zum gleichnamigen Film von Petr Václav, mit Václav Luks (Leitung), Solisten: Simona Saturova, Raffaella Milanesi, Philippe Jaroussky, Emöke Barath, Sophie Harmsen, Krystian Adam, Benno Schachtner, erschienen bei Erato
Im nächsten Konzert sind Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 wieder vereint. Am 20. März steht Georg Friedrich Händels »Messiah« auf dem Porgramm, der auch das nächste CD-Projekt des Collegiums ist.
Collegium 1704 & Collegium Vocale 1704
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