Herbert Blomstedt beendet wieder einen Leipziger Zyklus
Nach seiner Genesung nahm es Ehrendirigent Herbert Blomstedt in dieser Woche im Gewandhaus zu Leipzig etwas vorsichtig: Die Dimension des Großen Concerts war ihm noch zu weit, so kürzte er das ursprüngliche Programm um Franz Berwalds Tongemälde »Elfenspiel«, das eigentlich zwei Sinfonien Franz Schuberts ergänzen sollte. Offiziell ist sein Berwald-Schubert-Zyklus in Leipzig also abgeschlossen, inoffiziell hofft mancher vielleicht, daß das fehlende Stück in absehbarer Zeit doch noch nachgereicht wird. Zumal Herbert Blomstedt, wie im eben erschienenen Spielzeitheft für die Saison 2024 / 25 zu lesen ist, mit den Sinfonien acht (September) und sieben (April 2025) gleich zu einem neuen Bruckner-Zyklus anzusetzen scheint …
So sorgten die zweite Sinfonie (D 125, B-Dur) sowie die »Tragische« (vierte, D 417, c-Moll) von Franz Schubert, ursprünglich als Nukleus gedacht, für die Gesamtheit des Abends. Wobei das letztere Werk schon wegen der Tonart und des Beinamens auffällig ist – man sollte sich aber hüten, von derlei Beschreibungen oder Etiketten mehr abzuleiten, als da ist (oder umgekehrt). Wo nicht Beethovens Schicksalstonart drinsteckt und auch kein vom Komponisten oder Verleger gewählter Beiname steht, muß nicht wenig erwartet werden. Wer dennoch für solche Attribute anfällig ist, dem seien die Leipziger Konzerteinführungen mit Ann-Katrin Zimmermann empfohlen, die auch diesmal Schuberts »musikalische Rauschmittel« entschlüsselte.

Die Umsetzung theoretischer Betrachtung gab es sogleich im Anschluß: Die zweite Sinfonie schloß (scheinbar!) bei Haydn und Mozart an, um unmittelbar mit Tonartwechseln und der Verve der Streicher ein Schubert-Feuerwerk zu zünden – wer mochte da noch blättern, welcher Theoretiker die Tonartcharakteristik treffender beschrieben hätte?
Herbert Blomstedts sparsamen Anweisungen folgte das Gewandhausorchester punktgenau, ließ den ersten Satz energisch, fast marschartig hervortreten – klare Konturen und Rhythmen sorgten für Vitalität. Im zweiten erhoben sich aus einem eleganten Streicherandante die Variationen durch alle Instrumentengruppen, wobei sich durch die Besetzungswechsel mitten in den Variationen ein Vervielfältigungseffekt ergab. Das Menuetto schien trotz der Pause zwischen den Sätzen ganz unmittelbar aus dem Andante zu wachsen – bei solch thematischer »Bezugsdichte« kann man wohl kaum noch von »Jugendwerk« sprechen! Und auch im Finale pflanzte das Gewandhausorchester um Konzertmeister Andreas Buschatz dem Presto vivace einen Beethoven’schen Impetus ein.
Nach der Pause dann gab es weder »tragische« noch »schicksalshafte« Klänge, selbst wenn der Aufdruck der vierten Sinfonie von Franz Schubert es vielleicht suggeriert. Kaum, daß Herbert Blomstedt saß, ging es schon los – und wieder hob Schubert aus der angestammten Wiener Klassik ab. Der Wille zur Gestaltung zeigt sich bei ihm immer wieder vehement (und ist noch in den Fragmenten, soweit erhalten und zugänglich, verblüffend!).
Herbert Blomstedt nahm beide Sinfonien mit der Gelassenheit des Grandseigneurs, der die wilden, überschäumenden Episoden kennt, in langsamen Passagen aber das Maß hält. So lagen Idyll (Andante) und Drama oft nah beieinander, ohne sich zu widersprechen. Kontraste, wie sie etwa das Trio rahmten, bewahrten ihren Reiz, ohne überreizt nur auf den Effekt zu zielen. Somit gab es nach langsamen Tempi ein schwungvolles Erwachen und ein fließendes Finale, in dem sich Oboe und Harfe trafen, die Hörner das Solocello umschlossen und noch die Kontrabässe pointiert Akzente setzten. Eine sagenhaft sinfonische Klangschmelze!
6. April 2024, Wolfram Quellmalz