Klavierabend mit Hélène Grimaud im Gewandhaus zu Leipzig
Kurz nach ihrem Konzert im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele [unser Bericht: https://neuemusikalischeblaetter.com/2024/05/24/herztone-2/%5D weilte Hélène Grimaud im nahen Leipzig. Statt mit Orchester also ein Klavierabend, der mit Beethoven begann und mit zwei Rachmaninow-Étuden als Zugaben aufhörte. Ohne den letzteren geht es kaum, wissen Leipziger spätestens seit Hélène Grimaud ihr Bach-Programm vor vielen Jahren im Gewandhaus vorgestellt hat. Damals spielte sie den Thomaskantor in allen möglichen Bearbeitungen (unter anderem Rachmaninow), aber in keinem Stück original.
Der Anfang lag diesmal also bei Ludwig van Beethoven. Die Sonate E-Dur Opus 109 klang zunächst – so ähnlich war es in Dresden, wenn auch nicht so stark – ein wenig »verwaschen«. Feine Artikulation ist wohl nicht Sache der Pianistin, dafür aber ein starker Ausdruck, der sich mit dem Baß markant aufbäumen durfte. Impulshaft sprang das Vivace, schloß ein leichtes Geplänkel ein – so ganz glücklich wurde man damit nicht. Schon eher mit dem sanguinischeren Prestissimo. Zumindest der Anfang klang, als spiele da Brahms, später wandte sich Grimaud eher Schumann zu. Der capricenhafte Ansatz, der plötzlich »ausgleiten« und martialisch werden kann, ist der Pianistin schon länger eigen, der energische Impetus allerdings paßt ohne Zweifel zu Beethoven.

Verbindlicher, ausgeglichener gerieten die beiden Brahms-Zyklen vor und nach der Pause. Noch im Beethoven-Applaus nahm Hélène Grimaud schon wieder Platz und wandte sich den Intermezzi Opus 117 zu. Beiläufig wie ein Waldspaziergang geriet das erste, im zweiten wurde ein nachtschimmerndes Nocturne sichtbar. Kleine Funken und Wellen belebten es – für derlei Poetik hat Grimaud, zwei, nicht nur ein Händchen!
Die noch einmal komplexeren Phantasien Opus 116 brachen geradezu eruptiv über das Publikum herein (ein wenig, als spiele nun Beethoven Brahms, um das »Komponistenquartett« weiterzuspielen). Doch schon das erste enthielt in seiner Freude den »Du mußt aber bedenken« Einwand – die Zweifel, die Brahms so oft mit seinen eigenen Werken hatte? Die manchmal gar nicht so kleinen Stücke arbeitete Hélène Grimaud sauber heraus, legte Schicht um Schicht und Emotion um Emotion offen. Und auch bei ihr darf es – bei aller Energie – einmal ruhig fließen (Adagio). Ein Geheimnis liegt zweifelsohne im Pedal – während die Pianistin »oben« munter die Tasten springen läßt, nutzt die die Pedale für manch wundersame, überraschende Schattierung. Es scheint ein wesentlicher Teil ihres Gestaltungsraumes und ist – wiewohl manchmal ungewöhnlich – oft bezaubernd.
Bei Bach sucht Hélène Grimaud wohl etwas anderes als Zauber. Die Chaconne aus der zweiten Violinpartita (BWV 1004) schloß sie unmittelbar an Brahms‘ letztes Capriccio, als gehöre es dazu. Nur hatte sie unter den vielen Bearbeitungen des Stückes für Klavier nicht Johannes Brahms ausgewählt (der es für die linke Hand eingerichtet hat), sondern Ferruccio Busoni! Nun war die Artikulation weit besser, klarer als bei Beethoven zu Beginn, allerdings war das heftige Stakkato des Guten weit zu viel! War das noch Bach, was dort mehr sprang als hüpfte? Wenn sich Philosophen mit der Vertreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften befassen, so sei hier die Frage gestattet, ob Hélène Grimaud in diesem Fall Bach aus Busoni vertreiben wollte. Aber das ginge wohl zu weit – es war weder der eine noch der andere, sondern schlicht das Temperament von Hélène Grimaud!
2. Juni 2024, Wolfram Quellmalz