Christian Thielemann bändigte zum Abschluß Mahlers Achte
Letztes Sinfoniekonzert, letzte Vorstellung der Saison – es war außerdem die letzte mit dem scheidenden Chefdirigenten Christian Thielemann. Am Sonntag bereits offiziell vom Ministerpräsidenten verabschiedet, gab es am Dienstag keine weiteren Worte, dafür Blumen, Blumen, Blumen. Minutenlang applaudierte das Publikum nach dem Konzert und rief seinen Magier zurück, der sich noch einmal kurz auf der Bühne zeigte – das war es dann. Zwar hat das Orchester, in letzter Minute quasi, den Grundstein für die Fortführung der Zusammenarbeit gelegt und Christian Thielemann zum Ehrendirigenten ernannt, womit er in den erlauchten Kreis mit Sir Colin Davis und Herbert Blomstedt trat, trotzdem ist jetzt schon klar, daß wir in den nächsten fünf Jahren wohl keine Chance haben, ihn mit seinem nun ehemaligen Orchester zu erleben. Und danach? Eine lange Zeit …

Eine lange Zeit stand das Publikum noch auf dem Theaterplatz vor der Semperoper, unterhielt sich und diskutierte in Gruppen, statt auseinanderzuströmen wie sonst. Verabschiedung auch hier – in den Sommer – und eine vorläufige Auswertung. So etwas hatten viele noch nicht erlebt. Einige aber doch, die bereits am Sonntag oder Montag in einer Vorstellung gewesen waren. Ungeheuerliches war einem geboten worden, Gustav Mahlers ungeheure achte Sinfonie, ein Monstrum des Gigantismus? Was auch immer sie sein mag (die Bezeichnung »Sinfonie« faßt es nicht) – der Tausendsassa Christian Thielemann hatte die Sinfonie der Tausend letztendlich gebändigt.
Sinfonie, Oratorium, Kantate … gerade im affektgeladenen zweiten Teil mit seinen ausgeprägten Rollen, gewinnt Mahlers Achte immer wieder opernhafte Züge, schon zuvor wurden instrumentale Überleitungen zur Verwandlungsmusik. Vehement, ja inbrünstig ließ Christian Thielemann die Sächsische Staatskapelle musizieren, die nicht nur um viele Instrumente, sondern um zahlreiche Akademisten erweitert war – eigene und aus den Reihen des Gustav Mahler Jugendorchesters. Mahler, nicht Thielemann ging an klangliche Grenzen. Laut? Ja, war es durchaus, aber »Siegfrieds Trauermarsch« im »Ring« ist lauter gewesen. Zudem entzog Christian Thielemann dem Vorwurf eines »zu laut« oder »zu viel« durch seine differenzierte Auslegung die Grundlage. Wo andere nur laut, lauter, am lautesten kennen, durchschritt er einen ganzen Raum feinster Abstufungen.

Wenn also etwas nicht faßbar war, dann das Werk. Zu Mahlers Lebzeiten hat es das Publikum bzw. den Kreis der Eingeweihten praktisch elektrisiert. Man kann davon ausgehen, daß sie vorbereitet waren und die Textgrundlagen, den Hymnus »Veni, creator spiritus« sowie Goethes »Faust«, kannten. Was werden wohl künftige Generationen mit Mahler anfangen? Wird doch »Faust« aus dem Schulstoff gestrichen …
Im Hymnus-Teil ist es in der Tat schwer, Mahler zu folgen, selbst wenn man den Text mitliest. Doch vielleicht ist gerade das ein Fehler, vielleicht sollte man den Text wirklich voraussetzen und (nur) als Deutungsversuch gelten lassen. Denn was sich hier im Klang abspielte, war umwerfend. Chor, Orchester und Instrumentalsolisten – Christian Thielemann gelang es, die im Saal verteilten Musiker (eine Gruppe der Blechbläser im ehemaligen 5. Rang) und Sänger (Kinderchor im 1. Rang seitlich) in einem Klangpunkt zu bündeln. Das, gemeinsam mit der graduellen Auslotung, ist vielleicht das Resümee dieser Vorstellung, der stärkste, unglaublichste Eindruck. Mahler ist eben doch nicht unmittelbar, sondern wirkt nach.
Auch wenn er unmittelbar, fast schneidend begann (mitunter erinnerte der Hymnus an Carl Orff). Die instrumentalen Überleitungen ließen das Orchester hervortreten, bildeten eine Klangschmelze mit Glöckchen, Harfe, Pizzicati oder Solisten.
Die beiden Chöre (Chor des Bayerischen Rundfunks, Einstudierung: Howard Arman, Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Einstudierung: André Kellinghaus) fügte Christian Thielemann zu einem homogenen Ganzen (mit einem wunderbaren Chor-Piano im »Waldung, sie schwankt heran«), um im Verlauf, gerade dem Faust-Teil, mit Stimmgruppen sowie dem erfrischend agierenden Kinderchor der Semperoper Dresden Kontraste auszubilden und sie wieder zusammenzuführen – da hakelte nichts, blieb keine Lücke.

Das war bei den Solisten (Sänger) kein Jota anders. Noch einmal durfte Christian Thielemann auf solche vertrauen, die schon in den letzten Jahren wesentliche Opernprojekte mitgetragen hatten, wie Camilla Nylund Sopran und Ricarda Merbeth. Die beiden höchst unterschiedlichen Soprane sorgten über ihre Rollen (Magna Peccatrix und Una poenitentium) hinaus für eine innere Spannung des Werkes. Mezzosopranistin Štěpánka Pučálková, hier als Alt (Mulier Samaritana) besetzt, fügte ihren Stimmen eine goldene Mitte hinzu. Lieblingsbaß Georg Zeppenfeld, mit Thielemann unter anderem zum Hans Sachs gereift, rundete ein Bild ab, in dem Tenor David Butt Philip (Doctor Marianus) und vor allem Bariton Michael Volle (Pater ecstaticus) mit bestechender Artikulation begeisterten. Regula Mühlemann krönte das Ganze (mit Krönchen) als engelsgleiche Mater gloriosa aus der Proszeniumsloge heraus.
Am Ende gab es Blumen und viele Abschiede – nach Konzertmeister Roland Straumer am 2. Juli wurde am Dienstag Uwe Kroggel (stellvertretender Solo-Cellist) nach 44 Jahren in der Kapelle in den Ruhestand verabschiedet.
10. Juli 2024, Wolfram Quellmalz
Die neue Spielzeit beginnt am 31. August und – doppelter Anfang – mit Gustav Mahlers erster Sinfonie.
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