Schönberg im Sandwich und skulpturaler Schostakowitsch

Gustav Mahler Jugendorchester macht auf seiner Sommer-Tournee Station im Dresdner Kulturpalast

Das Gustav Mahler Jugendorchester (GMJO) eröffnet mit seinem Gastauftritt traditionell die Spielzeit in Dresden. Mittlerweile die Spielzeiten, denn das Orchester hat neben der Sächsischen Staatskapelle Dresden auch die Dresdner Philharmonie als Partner gefunden. Statt der Eröffnung in der Semperoper oder Frauenkirche war das GMJO daher am Montag gestern im Kulturpalast zu erleben, gerade für Schostakowitschs achte Sinfonie sicherlich eine gute Wahl.

Doch nicht nur die Partner haben sich gemehrt und der Ort ist ein anderer, auch die Preise sind gestiegen: Früher gab es das GMJO zur Einheitskategorie, mittlerweile sind die Karten für Europas beste Musikstudenten gestaffelten von 20 und 59 (!) Euro zu haben – das ist das Niveau der Gastgeber, immerhin ein etabliertes Profiorchester von Weltrang! Sonderangebote für Schüler sowie »Last-Minute«-Karten erleichterten den Zugang allerdings.

links: Ingo Metzmacher »Keine Angst vor neuen Tönen« erschienen bei Rowohlt, rechts: John Montagu, 4. Earl of Sandwich (1718–1792), britischer Diplomat und Staatsmann, Mezzotinta-Druck (1744) von Valentine Green  (1739–1813)  nach Johann Zoffany  (1733–1810), National Portrait Gallery, London, Bildquelle: Wikimedia commons

Geblieben ist in den letzten Jahren das enorm dicke Programmheft. Während andere längst auf Nachhaltigkeit setzen (freilich mit teils fragwürdigen Lösungen), spendiert das GMJO ein ganzes Journal zur Tournee, dessen Umfang der Spielzeitbroschüre der Philharmonie entspricht! – Selbst begeisterte Musikfreunde tun sich schwer, diesen »Schinken« nach dem Konzert zu archivieren. Wer braucht denn bitte (als Begleitinformation für ein Konzert) die Aufführung aller ehemaligen Mitglieder oder sämtlicher (!) Tourneen des GMJO seit 1987? Statt dessen wären eine bessere Programmübersicht und fundiertere Texte wünschenswert.

Glücklicherweise ist aber auch die musikalische Qualität des GMJO erhalten geblieben. Und die ist nahezu vorzüglich! Mit Ingo Metzmacher hatten sie diesmal einen Dirigenten dabei, der sich die Gegenwartsmusik zur Lebensaufgabe gemacht hat. Schon während seiner Zeit als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper rief er die Reihe »Who is afraid of 20th Century Music« ins Leben, 2005 erschien sein Buch »Keine Angst vor neuen Tönen« bei Rowohlt. Musik von Arnold Schönberg sollte also sicher in seinen Händen liegen.

Ingo Metzmacher vor dem Gustav Mahler Jugendorchester, Photo: Pressematerial GMJO, © Martin Divisek

Warum Ingo Metzmacher dessen Fünf Orchesterstücke Opus 16 zwischen zwei Ouvertüren Ludwig van Beethovens gepackt hat, hätte vermutlich auch John Montagu nicht verstanden (der 4. Earl of Sandwich ist der Legende nach der »Erfinder« des gleichnamigen belegten Brotes). Das Sandwich aus Beethoven / »Coriolan« (Ouvertüre c-Moll), Schönberg und Beethoven / »Leonore 3« verhinderte allenfalls den Applaus nach dem Abschluß der Stücke – wen hätte das gestört? Abgesehen vom etwas ruhelosen Eindruck fegte die dritte Fassung der »Leonore« sozusagen alles zuvor gehörte hinweg – wie schade, dabei hatten gerade die »Bilder« der Fünf Orchesterstücke wunderbar fragile Farben gezeigt, Bruchstücke und Traumsequenzen offengelegt. Schon »Coriolan« hatte ein superbes Fagott vorgeführt; Schönberg bewies, wieviel verständige, ausgewogene Soli aus Streichern und Bläsern wachsen konnten – dazu wob die samten »geschlagene« Celesta eine eigene, zauberische Atmosphäre.

Ingo Metzmacher versteht es durchaus, ein sinfonisches Gewebe noch um einzelne Partikel zu bereichern, die vielleicht keinen gewichtigen Schwerpunkt setzen, aber zur Dichte und Stimmung beitragen. Insofern war »Leonore 3« absolut unwiderstehlich – nur leider (wie manchmal, wenn etwas Positives gelingt) zum Schaden des zuvor gehörten.

Grundsätzlich konnte das Orchester wieder, was Stärke und Qualität betraf, die Besucher nur erfreuen. Andererseits fragen sich gerade regelmäßige Gäste, die das üppige Programm gewissenhaft durchblättern, warum Studenten aus aller Herren (europäischer) Länder und Städte im GMJO sitzen, nur nicht aus Dresden. Sechsmal Leipzig (Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy«), immerhin einmal Weimar (Hochschule für Musik Franz Liszt, die in den vergangenen Jahren auch schon einen Konzertmeister des GMJO stellte) – Dresden? Fehlanzeige!

Dmitri Schostakowitschs achter Sinfonie c-Moll dürfte es herzlich egal gewesen sein, wie sich das Orchester nach Herkunft zusammensetzt. Viel wichtiger war, daß Ingo Metzmacher ihr eine skulpturale Qualität abgewann, die kräftige, tragende Säulen ebenso enthielt wie feine Verzweigungen. Aus einem sachten Puls ließ Metzmacher das Thema wachsen, daß sich großflächig zwischen Kontrabässen und hohen Streichern aufspannte. Wandlungsfähig gelangen Umformungen aus kleinen Gruppierungen in große Tuttiläufe bruchlos. Ein pieksauberes Piccolo und ein klangschöner Posaunenchor fügten sich ein. Vielleicht gelang das mittlere Allegro non troppo am schönsten? Für Brüche bzw. Kanten sorgten allein Schostakowitschs Konturen, teils (mit Trompete und Trommel) durchaus martialisch. Und doch gelang dem GMJO, die Klippen reiner Marschmusik zu umschiffen – mit Ferntrompete und einem betörenden Englischhorn (man hätte mit ihm »Tristan« proben wollen!) blieben in Schostakowitschs existentiellem Feuer die Nuancen verletzlichen Lebens erhalten.

27. August 2024, Wolfram Quellmalz

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