Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker zu Gast im Dresdner Kulturpalast
Die Dresdner Musikfestspiele wollen den Kulturpalast nicht nur innerhalb der Festspielzeit (im kommenden Jahr 17. Mai bis 14. Juni), sondern auch darüber hinaus mit internationalen Gästen bespielen. Kurz nach dem Besuch des Trios Leonidas Kavakos, Yo-Yo-Ma und Emanuel Ax kamen am Dienstag die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann zu Besuch – eine Traumbesetzung, die in den letzten Jahren nicht nur mit Beethoven- und Bruckner-Zyklen für Verzückung gesorgt hat, sondern manchen Musikfreund schon denken ließ, Thielemann sei der neue Chef der Wiener – doch die haben gar keinen festen Chefdirigenten.
Für die NMB war es binnen vier Tagen (Elbphilharmonie am Sonnabend, unser Bericht hier: https://neuemusikalischeblaetter.com/2024/09/17/helden-und-seefahrer-oder-reisende-und-betrachter/) gleich die zweite Begegnung. Diesmal standen Robert Schumanns »Frühlingssinfonie« und Anton Bruckners Erste auf dem Programm – der offiziellen Zählung gemäß also sogar zwei erste Sinfonien, doch wissen wir längst, daß offizielle Zählungen oft falsch sind, weil sie die Reihenfolge der Entstehung nicht berücksichtigen oder Früh- bzw. Jugendwerke ignorieren. (Nicht einmal Beethoven entging solch mißdeuteter Numerierung.) Aber wir gehen ja nicht ins Konzert, um »Nummern« zu hören, sondern wegen der Musik.

Und die führte im vorliegenden Fall die nach verschiedenen Komponieranläufen bewußt reifen gelassene, wiewohl von jugendlichem Feuer durchglühte erste Sinfonie Robert Schumanns, im anderen den vermeintlich späten Erstling eines der großartigsten Sinfoniker (und Symphoniker) der Musikgeschichte, Anton Bruckner – genug der Theorie!
Widmen wir uns lieber der Klanganalyse, denn die förderte – wie schon in Hamburg – eine Flexibilität, Ausdruckskraft und Ästhetik zutage, die überraschte, verblüffte, begeisterte, wenn zum Beispiel die Violingruppe geschlossen den Gestus markanter Blechbläser ausführte, ohne dabei scharf oder gar spitz bzw. »überzogen« zu erscheinen. Das jugendliche Feuer hat Christian Thielemann sich offenbar bewahrt, und er pflanzte es sachte dieser »Frühlingssinfonie« ein, die keinen weichen, vornehmen Klang anstrebte, sondern von jugendlichem Elan kündete. Wie die Streicher eine Klangfülle formten, die dennoch schlank blieb, war geradezu paradox!
Das Larghetto geriet so nicht zu einem in sich gekehrten Schwelgen, sondern zeichnete einen Kraftstrom – ruhig, und bedächtig. Um so lichter hoben die Wiener die Kantilenen darin hervor. Auch das Finale, brausend teilweise, bewahrte solche Spannung, und sei es in einer kurzen, leicht gedehnten Verzögerung – als kostete da einer den letzten Bissen genüßlich aus. Die abschließende Beschleunigung, mit Akkuratesse gesetzt, berauschte um so mehr.
Wie schon beim Hamburger Programm hatte Christian Thielemann seinen Musikern viel Freiraum gelassen, schien mehr zu justieren, als den Verlauf zu bestimmen. Und wie in der Elbphilharmonie änderte sich das nach der Pause, als Christian Thielemann für Bruckner 1 (Wiener Fassung mit den späten Überarbeitungen von 1890 / 91) die Zügel fest in die Hand nahm.

Und dies geschah nur zum Besten, denn Thielemann stülpte dem Orchester kein Korsett über, sondern koordinierte die Themenverflechtungen und Kontrapunktik mit Feingefühl und Ohrenmaß. Praktisch aus dem Stand entwickelte sich ein Puls, der dem Werk seine Kraft gab und bis zum Ende nicht reißen sollte, sich dabei sogleich mit dem fast minimalistischen Acht-Ton-Anfangsmotiv mischte. Ober mögen sie ein goldenes Crescendo lieber, wie es bald folgte? Traumhaft! In dieser Ersten (und dieser Fassung) steckt bereits alles, was Bruckner so unnachahmlich macht: Klangfülle, Detailvielfalt, Entwicklungsstufen. Und Kontraste stellten nicht einfach hell und dunkel dar, weniger »Kanten«, sondern konturierten sorgsam Farbabstufungen, als ginge es um das Lindgrün des Frühlings und des Sommers. So kristallisierte Christian Thielemann im Allegro Figurationen (vor allem der Streicher) heraus, das Adagio – Welten entfernt von Schumanns Larghetto – fand ein schwebendes Orchesterpiano, das aus den Wolken herabzusinken schien. Doch schweben mochte Anton Bruckner wohl nicht, zumindest nicht lang. Geradezu angriffslustig brach das Scherzo los, um im Finale zum eigentlichen Energiestrom vorzudringen. Die Generalpause, effektvoll gesetzt, offenbarte eine Stärke von Bruckner innerhalb seines Klangzirkels, den Hall, und dabei fand das Konzert doch im Saal des Kulturpalastes statt und nicht in einer Kirche! Der Schluß war (erneut) kein Gipfel, sondern ein Plateau. Schöne Aussichten, kann man da nur hoffen, zumindest auf mehr Bruckner.
18. September 2024, Wolfram Quellmalz