VICA Ensemble findet bei Bruckner und Strawinsky erstaunliche Gemeinsamkeiten
Es war erst der dritte Auftritt unter dem neuen Namen VICA, mit seinen Mitstreitern (natürlich musikalisch gemeint im Sinne Heinrich Schütz‘ bzw. Martin Luther) hatte Richard Stier in der Vergangenheit aber bereits einige Konzertprojekte lebendig werden lassen. Darunter waren so wirksame Stücke wie das Weihnachtsoratorium oder die Johannes-Passion. Gestern war das VICA Ensemble mit dem bisher vielleicht konzentriertesten Programm zu erleben. In der Dresdner Lukaskirche standen Jubilar Anton Bruckner und Igor Strawinsky auf dem Programm. Teils a-cappella-Musik, aber auch da, wo das kleine Orchester (ein Bläserensemble) beteiligt war, brauchte der Chor diese a-cappella-Qualität.
Mit vier der Graduale Anton Bruckners, seinem Pange lingua und dem Kyrie aus der Messe Nr. 2, die Richard Stier um Igor Strawinskys Mass (Messe) und Pater noster ergänzte, war es nicht nur ein dezidiert sakrales Programm, sondern auch eines, das besonders der katholischen Konfession zugewandt war – in dieser konzentrierten Form musikalisch reizvoll, sorgt es natürlich nicht für so einen Besucherstrom wie bei den oben genannten Werken. Für die Entwicklung und Profilierung des Ensembles dürfte es aber gleichermaßen wichtig sein.

Und es lohnte jedes der teils selten aufgeführten Werke! Schon mit dem Einsetzen von Bruckners Kyrie stellte sich eine Ruhe ein, die in ihrer Konzentriertheit den Abend über anhalten sollte. Bruckner, schien es, verwischte manche Grenzen: ohne Begleitung und versetzt beginnend, gesellten sich den Stimmen bald die Bläser hinzu, die zunächst einer vokale Färbung folgten, bald aber Bruckners sinfonische Dimensionen andeuteten. Auch hat der Komponist die drei Zeilen nicht, wie am Beginn der Messen, nicht nur im Barock üblich, nach Versen getrennt, er ließ sie ineinanderfließen. Richard Stier arbeitete darin Betonungen und Hebungen heraus.
Die Motette Pange lingua (Preise, Zunge, das Geheimnis) erwies sich als Lehrbuchbeispiel für die Art des Komponisten, einerseits schlicht das Wort in den Vordergrund zu stellen und auf Effekte weitgehend zu verzichten, andererseits aber binnen weniger Silben bzw. Takte durch Hervorhebungen Emotionen zu wecken oder wiederum zur Ruhe zu finden (vor allem im zweiten Satz). Neben der innerlichen Ruhe erschloß sich dabei nicht zuletzt ein Momentum der Hingabe.
Über Anton Bruckner persönlich weiß man heute kaum etwas, und gerade angesichts der zahlreichen Anekdoten sollte man sich hüten, daraus Schlüsse ziehen zu wollen. Am nächsten kommt man ihm vielleicht in seinen zugewandten, religiösen Werken. Die Graduale Locus iste, Os justi, Virga jesse und Christus factus est standen beispielhaft dafür. Erneut fiel der Verlauf mit binnen kurzem aufflammenden Emotionen auf, aber auch kleine solistische Einschübe, die Bruckner noch aus der Gregorianik übernommen hatte. Knapp, schlicht, aber wirkungsvoll, dafür stand nicht nur das »Alleluja« in »Os justi« Pate. Ganz besonders berührte das Locus iste zu Beginn. Manchmal jedoch, wenn der Klang besonders weit und groß wurde (Virga jesse), waren Ausgewogenheit und Geschlossenheit in der vergrößerten Choraufstellung noch nicht so gegeben wie bei der kleineren VICA-Besetzung.
Mit Igor Strawinskys Mass änderten sich die Musik und den Chorklang prägende Parameter wie Chromatik und Harmonie. Trotzdem trat die Expressivität nicht so hervor, wie mancher vielleicht erwartet hatte. Die Bläser gaben oft einen Anstoßimpuls, schienen anfangs wie eine Luftschicht, die den Chor trägt, folgte dann wieder rhythmischen Pfaden, fast an Tschaikowsky erinnernd. Mit Fanny Lamers (Sopran), Clara Bergert (Alt), Philipp Frieß (Tenor) und Niklas Hofmann (Baß) waren in der Mass vier Solisten besetzt, die sich im Duo bzw. Trio fanden. Dabei agierte der Chor repetierend oder erwidernd, sein »Amen« im Gloria schien aus weiter Ferne heranzuschweben – Effekte gab es schließlich doch. Dennoch überwog auch bei Strawinsky die Bedeutung des Wortes, nutzte er kurze a-cappella-Sequenzen, die Bläser unterstrichen oft verstärkend einen Ausdruck. Das ließ nicht zuletzt Ambivalenzen zu, wie im andächtigen Sanctus, das beinahe fragil schien. Das Agnus Dei begann seinerseits verhalten, steigerte sich aber bis zum Dona nobis pacem. Das bekräftigende, sichere Pater noster hier direkt anzuschließen, als gehöre es zur Mass, war musikdramaturgisch ebenso schlüssig, wie es liturgisch paßte.
Mit einem Credo des Solistenquartetts im Vorraum und dem um das Kirchenschiff verteilten Chor als Zugabe verabschiedete sich das VICA Ensemble von seinem Publikum.
19. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz
Das Konzert findet heute noch einmal in der Johanneskirche Meißen statt. Nächstes Konzert in Dresden: Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach (Kantaten I bis III), 14. Dezember, Auferstehungskirche Plauen.
Spendenaufruf für die Kirche Großröhrsdorf und aktuelle Informationen: https://www.kirche-grossroehrsdorf.de/