Thüringer Nährboden, Prager Blüte

Collegium 1704 mit Motetten der Familie Bach

Johann Sebastian Bachs Bedeutung in der Musik ist nahezu unerreicht. Ohne ihn von diesem Sockel stoßen zu wollen, muß man aber anerkennen, daß der Thomaskantor nicht »aus sich selbst« kam, sondern auf einem günstigen Nährboden stand. Er war nicht nur mit Johann Pachelbel und dessen Kompositionen vertraut oder studierte Antonio Vivaldis Musik, zu allererst war er in eine weitverzweigten Musikerfamilie geboren, deren Mitglieder in Kapellen, als Organisten und Kantoren seit zwei Generationen in ganz Thüringen seßhaft waren. Heute überstrahlt das Werk Johann Sebastians sie alle – und drängt manche wertvollen Stücke in den Hintergrund des Bewußtseins. Bedenkt man noch, daß von den Onkeln und Cousins (die Kindergeneration klammern wir für einen Moment aus) viele Werke gar nicht erhalten sind, wird deutlich, daß uns vieles unbekannt, verloren ist.

Václav Luks und sein Collegium 1704 boten dem Publikum am Dienstag in der Dresdner Annenkirche einen Einblick in diese familiäre Reichhaltigkeit und hatten dabei – dem Jahreskreis entsprechend – nicht Festkantaten, sondern Motetten von meist innigem Charakter aufs Programm gesetzt. Mit ihrem im Vergleich zur Kantate eher kontemplativen Charakter erlaubten sie eine besondere, weniger affektreiche Annäherung, doch von den Konzertbesuchern war wohl keiner unberührt oder nur »still zufrieden«.

Dabei hatten die Prager Musiker noch in der Dramaturgie achtgegeben, sich nicht mit dem verhaltenen Ausklang einer Trauermotette zu verabschieden, sondern das freudige »Singet dem Herrn ein neues Lied« (BWV 225) Johann Sebastian Bachs ans Ende gesetzt.

Hans Holbein der Ältere »Graue Passion«, Flügelaußenseiten des Altars, Bildfolge von links nach rechts, dann nach unten: 1. Christus am Ölberg, 2. Gefangennahme Christi, 3. Christus vor Hannas, 4. Geißelung Christi, 5. Dornenkrönung Christi,  6. Ecce Homo (Ölfarbe und Tempera auf Holz, 1494 bis 1500), Staatsgalerie Stuttgart, Bildquelle: Wikimedia commons

Schon der Beginn hatte einen markanten Effekt: an die gediegene Sinfonia aus der Kantate »Der Herr danket an uns« (BWV 196) schloß Václav Luks direkt »Wachet! Betet! Betet! Wachet!« (BWV 70) an, dessen Chor als wahrer Weckruf erklang. Nebenbei zeigte sich, daß das Kantatenformat von Johann Sebastian Bach keineswegs so festgefügt war, wie der Kanon ausgewählter Werke manchmal zu vermitteln vermeint. So wechselte das ohnehin ungewöhnlich reichverzierte Rezitativ vom Tenor (Ondřej Holub) in den Baß (Tomáš Šelc). Eine klare Diktion war ihnen ebenso gemein wie eine emotionale, schöne Gestaltung. Tereza Zimková (Sopran) und Aneta Petrasová (Alt) rundeten dies musikalisch ab, erreichten beide mit tragender Stimme aber auch warmen Timbre das Publikum in den teils dramatischen Arien.

Die folgenden Motetten erwiesen sich zum Teil als große Ohrenschmeichler. Mit »Es ist nun aus mit meinem Leben« (auch als Sterbe-Aria bezeichnet) stand ein Werk aus der Elterngeneration Johann Sebastians, von Johann Christoph Bach, auf dem Programm. Pavla Radostová, die wir aus vielen Konzerten und Opernaufführungen kennen und deren Präsenz dort schätzen, zeigte sich diesmal von einer deutlich milderen Seite. Mit einem Lautenakkord hatte das im Vergleich zur Kantate zuvor deutlich stillere Werk begonnen, die gegebene schimmernde Schönheit sollte über die nächsten Stücke anhalten. Im Wechsel mit dem Chor fügte Pavla Radostová geschmackvolle kleine Verzierungen ein, als wolle das Werk verdeutlichen, daß der Tod ein schöner Abschied sei.

Die beiden Collegia (Orchester und Collegium Vocale 1704) trugen das Programm, in der Folge mit kurzen Motetten (»Komm, Jesu, komm« / BWV 229, »Fürchte dich nicht« von Johann Christoph Bach, »Das ist meine Freude« von Johann Ludwig Bach, einem entfernten Cousin Johann Sebastians, und »Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt«, noch einmal von Johann Christoph Bach) zwar mit Zurückhaltung vor, fokussierten aber auf Betonungen und viele in den Versen enthaltenen Wendungen, wie dem »Komm« in »Komm, Jesu, komm«, das den Hörer einfangen will. Auch die verschiedenen Textanfänge (»Fürchte dich nicht«, »Das ist meine Freude«) wurden immer wieder emphatisch abgebildet.

Das Orchester wuchs trotz der gegebenen Zurückhaltung – ausgerechnet im dem Text nach kürzesten Stück (»Das ist meine Freude«) – auf drei Oboen und setzte gerade mit der Bläsergruppe rechts (Oboen, Trompete) wohlklingende Achtungszeichen, während der Chor mit seinem mitreißenden Gestus in »Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt« eine enorme Spannweite bis in den Subbaß mühelos darstellte.

Diese Motette wäre an sich ein schöner Schluß gewesen, doch Václav Luks wollte hier wohl etwas Hoffnung und Zuversicht schenken und fügte den Freudenstrahl des »Singet dem Herrn« an. Und nicht nur das, denn – was bei den geschlossenen Programmen des Collegium 1704 selten vorkommt – es folgte diesmal noch eine Zugabe, »Wohl mir, daß ich Jesum habe«, aus der Kantate »Herz und Mund und Tat und Leben« (BWV 147, Choral des 1. Teils in der Leipziger Fassung).

26. März 2025, Wolfram Quellmalz

Achtung, Terminänderung! Das letzte Konzert der Musikbrücke Prag – Dresden finden bereits am Sonntag, 13. April, statt. Kurz vor Ostern steht dann Jan Dismas Zelenkas Passionsoratorium »Gesù al Calvario« (ZWV 62) auf dem Programm. https://collegium1704.com

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