Zelenkas Passionsoper

Collegium 1704 führte »Gesù al Calvario« auf

Obwohl wir das Collegium 1704 seit langem kennen und mit ihm die Werke Jan Dismas Zelenkas durchforsten, waren gestern wohl sicher ein paar Besucher überrascht, was sie da geboten bekommen hatten: Zelenkas Passionsoratorium »Gesù al Calvario« (Jesus auf Golgatha, ZWV 62). Nicht nur in seinen Ausmaßen – über zwei Stunden brauchte die Erzählung um den Tod Jesu. Erzählung? Das wäre unzureichend beschrieben. Denn anders als in so vielen Oratorien, welche die Passion beschreiben, ist gerade die Erzählung der Handlung hier nebensächlich. Die Verleugnung Jesu, der Verrat Petrus‘, Pilatus‘ Frage, wen er freigeben solle (Barrabas oder Jesus) – bei Zelenka rückt es praktisch in den Hintergrund!

Gerade in Dresden oder Mittelsachsen, wo die Gemeinde (bzw. die Zuhörer) gewöhnt ist, die Erzählung, oft durch einen Evangelisten, vorgetragen zu bekommen, muß Zelenkas Oratorium nicht erst heute überraschen. Schon 1735 war es ungewöhnlich, und das auch innerhalb des Sächsischen Hofes. Denn Maria Josepha, Gemahlin Friedrich August III., hatte nach ihrer Hochzeit und erst recht später als Kurfürstin darauf gesehen, am Hof nicht nur eine »angemessene« katholische Liturgie einzuhalten, sondern ihr eine eigene – ihrer Herkunft und Familie entsprechenden – Prägung zu verleihen. Dabei hatte sich Maria Josepha in vielen Punkten durchgesetzt und man darf annehmen, daß Zelenka ihrem Willen mit dem der Kurfürstin gewidmeten Werk entsprochen haben dürfte.

Albrecht Altdorfer (1480 bis 1538) »Kalvarienberg« (Ölfarbe auf Lindenholz, 405, x 33,1 cm, um 1526), Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Bildquelle: Wikimedia commons

Und doch trifft den Zuhörer noch heute Zelenkas Kreativität, ja, man möchte sagen Innovationskraft, mit ungeheurer Wucht! Der Komponist hat das Libretto von Michelangelo Boccardi, das vor allem auf das Befinden und die Gefühle von Jesus, dessen Mutter Maria, Maria Magdalena, Maria Kleophas und dem Heiligen Johannes in den Mittelpunkt setzt, nicht allein affektreich vertont (dazu fehlen im Verlauf eigentlich die markanten Höhe- und Wendepunkte), sondern die Emotionalität sinnlich und tiefempfunden abgebildet. Oft erleben die fünf Personen dabei heftige Wechsel ihrer Gefühle, wenn sie im Erinnern oder Innehalten zurückblicken, zornig, traurig oder (fast) verzweifelt sind – dennoch finden sie immer etwas, woran sie sich aufrichten: ihren Glauben, Jesus.

Diese emotionale Bandbreite verlangt nicht nur eine opernhafte Auslegung, Zelenka hat genau diese auch »bedient«. Er will nicht nur berühren, er will uns mitreißen – der Zuhörer soll ebenso Verzweiflung spüren wie Hoffnung. Insofern überraschten die vielen Da-capo-Arien also kein bißchen. Ebensowenig die Sinfonia des Eingangs – kein großer Chor baut die Stimmung auf, kein »Licht« glimmt und scheint – schon zu Beginn umgibt Zelenka die Zuhörer mit einer Stimmung vor allem dunkler Trauer, die tief berührt.

Die Soli waren 1735 mit den fünf (!) wichtigsten Kastraten des Dresdner Hofes besetzt, die Anteile des Chores sind ihnen gegenüber deutlich geringer. Das ist eigentlich schade, denn das Collegium Vocale 1704 agierte trotz diesmal kleinerer Besetzung nicht allein mit sängerischer Frische, sondern großer vitaler Ausdruckskraft, zunächst (nur die Frauenstimmen) als Töchter Zions hinter dem Orchester, später von der linken Seitenempore aus.

Die fünf Solisten mögen in ihrer individuellen Ausprägung und Überzeugungskraft den damaligen entsprochen haben. Dabei mußte Václav Luks kurzfristig noch einen kleinen Ringtausch vollführen: für die ursprünglich vorgesehene Aneta Petrasová rutschte Margherita Maria Sala in den Alt bzw. Mezzosopran der Maria Kleophas – ursprünglich sollte sie die Sopranpartie der Maria Magdalena singen, die nun von Tereza Zimková übernommen wurde. Wir kennen die Sopranistin, die zum Stamm des Collegium Vocale 1704 gehört, mittlerweile aus vielen Soloauftritten.

Außerdem gab es eine Wiederbegegnung mit dem Countertenor Benno Schachtner als Jesus – er war schon öfter bei der Musikbrücke Prag – Dresden zu Gast und hatte auch bei den Aufnahmen von »Il Boemo« mitgewirkt. Roberta Mameli bewies als Mutter Jesus‘ eine enorme Ausdruckskraft und Spannweite – daß Maria ihre Muttergefühle ausleben darf, ist so zentral in einem Oratorium absolut ungewöhnlich! Mit Yuriy Mynenko als Heiligem Johannes gab es einen zweiten Countertenor unter Solisten, die sich alle mit einer ganz persönlichen Farbigkeit, Aufwallung und Ausprägung präsentierten, was sich noch stärker in den Duetten des zweiten Teils und dem Quartett der drei Marien mit Johannes herausstellte.

Roberta Mameli hatte die wohl emotionalste Rolle und stattete die Mutter Jesus‘ mit an Verzweiflung grenzender Trauer, aber ebenso einem heiligen Zorn aus, den sie einmal gezielt hinausschleuderte (Arie »Dunque nascesti« / »Oh Sohn, bist also du geboren«). Dabei begeistere vor allem, wie sie ein feines Vibrato einsetzen und forcieren konnte. Benno Schachtner verlieh Jesus einen oft milden Ton – er vermittelt und behütet noch angesichts des Todes. Und doch gab es auch bei ihm eine Abstufung der Stimmung, etwa, wenn Jesus Abschied nimmt und in tiefe Trauer fällt (»Addio! Giovanni, addio! Diletta, diletta Genitrice« / »Lebe wohl, Johannes! Meine geliebte Mutter!«). Der Heilige Johannes erfuhr mit Yuriy Mynenko nicht weniger eine Aufwallung heiligen Zorns, als er das »Weinen der armseligen Mutter« beklagt (»Di madre misera, garn Dio, le lagrime«). Tereza Zimková fand für Maria Magdalena die klaren Worte einer klaren Stimme, mischte ihr aber dennoch ein paar charakteristische, wohltuende Schärfen bei. Mag Margherita Maria Sala vergleichsweise wenige Soli gehabt haben – ihre Klage (»Ah no! turbe spietate« / »Ach nein, du mitleidlose Menge«), mit dem Maria Kleophas letztlich zur Ruhe findet, berührte vielleicht am tiefsten. – Doch auch hier trat die Menge bzw. das Volk nicht handelnd oder als Turba-Chor auf, denn es ging wiederum darum, wie Maria Kleophas eine Situation erlebt und was sie empfindet. Unter den Kontrastwirkungen gehörten die Arie Maria Magdalenas »Se ingrato e ribelle« (»Ist da etwas an den rebellischen Undankbaren«) mit dem bald folgenden Piano der Mutter Maria (»O figlio! O vista!« / »Oh mein Sohn! Oh dieser Anblick«) zu den eindrucksvollsten!

Insofern war auch das Orchester des Collegium 1704 in einer besonderen Rolle, denn es mußte beständig die Affekte unterstreichen, ohne dabei konzertierend hervortreten zu können (dürfen). Das gelang jedoch wieder einmal so spielend (im Wortsinne), daß man doch eigentlich nicht mehr verblüfft sein dürfte (?). Doch, man durfte, denn die oft im Duo auftretenden Fagotte, Flöten und Oboen sorgten für ganz besondere Farbkombinationen und Nuancierungen. Dabei gab es ein Wiederhören mit dem Chalumeau und Ernst Schlader – beide hatten wir im März in Prag erlebt. Am Schluß durften alle Bläser gemeinsam die letzte Arie der Mutter Maria vergolden. Da wagte man beinahe, die Frage zu stellen, inwieweit (oder inwiefern) ein Oratorium (halb)szenisch dargestellt werden dürfte.

14. April 2025, Wolfram Quellmalz

Nun pausiert zumindest die Musikbrücke Prag – Dresden bis zum Oktober. Doch das Programm ist veröffentlicht, der Vorverkauf hat begonnen!

Das Collegium 1704 selbst und Václav Luks pausieren natürlich nicht – schon im Mai nehmen sie Jan Dismas Zelenkas Missa Circumcisionis (ZWV 11) auf. Wer das neue Projekt unterstützen mag, findet in Kürze mehr dazu auf der Seite des Collegiums. https://collegium1704.com/de/

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