Petr Popelka und Pierre-Laurent Aimard beim Gewandhausorchester
Während anderenorts der Komponist Pierre Boulez rund um seinen 100 Geburtstag (26. März) eher im kleinen Rahmen und mit den Spezialensembles der Neuen Musik gefeiert wird, stand er in dieser Woche beim Leipziger Gewandhausorchester auf dem Programm des Großen Concerts und erklang damit erneut – erst vor einem knappen Monat hatten wir einen Klavierabend mit Tamara Stefanovich und Pierre-Laurent Aimard im Gewandhaus besucht (Bericht der NMB: https://neuemusikalischeblaetter.com/2025/04/04/tanz-der-elemente/). Aimard fiel damit sozusagen eine kleine Residenz zu – er ist bei weitem nicht der einzige, der Boulez spielt, aber es gibt wohl wenige, die ihm dabei nahekommen.
Eingeweihten war also klar, daß der Franzose nicht nur Solist in Ravels Klavierkonzert sein, sondern sich schon an »Éclat für 15 Instrumente« beteiligen würde. Pierre Boulez hatte sein Werk 1965 nicht zuletzt geschrieben, um der Neuen Musik durch neue Wege der Notation zu einer neuen Wirkung zu verhelfen. Vor allem im zeitlichen Ablauf öffnete er die Möglichkeiten des Eingreifens, Anstoßens und Verweilens. Während »Eklat« bei uns heute eindeutig negativ konnotiert ist (für Streit, Skandal, Zwischenfall), rührt das ursprüngliche Éclat im Französischen von einem plötzlichen lauten Geräusch her, einem Knallen zum Beispiel. Boulez hat – sich der Doppeldeutigkeit des Begriffs bewußt – Wege gesucht, diese Plötzlichkeit und das Geräuschhafte in seiner Musik lebhaft zu verankern und durch die Verantwortungsverschiebung im Ablauf Monotonie und Uniformität zu vermeiden.
Petr Popelka war insofern – ganz anders als später bei Ravel und Bartók – mehr ein »Einsatzleiter«, der koordinierte, zuhörte und Anstöße gab – der individuelle Spielraum der fünfzehn Einzelspieler, mitten unter ihnen Pierre-Laurent Aimard, wuchs damit. Überhaupt war es ein besonderes Konzert, eines jener Ereignisse, bei denen man nicht nur hinhören, sondern auch staunend beobachten konnte, wie Musik, wie Klang entsteht (später bei Bartók nicht minder). So entstand der Éclat als vielstimmiger und »vielstößiger Impuls«, der sich einerseits aus Trillern und Dreiklängen zusammensetzte, vor allem aber vom lebendigen Reagieren der Akteure gekennzeichnet war – erfrischend! Vor allem, weil trotz der überwiegend perkussiven Klänge ein luftiges Gewebe entstand, das oft davon geprägt war, daß die Musiker einander »ausreden«, also ihre Instrumente ausklingen ließen.
Dagegen schien der musikalische Éclat von Maurice Ravel (sein Konzert für Klavier und Orchester G-Dur beginnt mit dem Knall einer Klappe) fast schon gewöhnlich. Fließend und sprudelnd ließen Petr Popelka und Pierre-Laurent Aimard die Ecksätze toben, wie eine Sonate war darin das Adagio assai eingebettet – lange darf das Klavier allein melodiös schmelzen, bis spät doch noch Bläser und Streicher einstimmen. Trotz aller Turbulenz, mit der das Werk schloß, fielen die weichen Konturen auf, die fließenden Übergänge, die Petr Popelka geschmeidig formte.

Die musikalische Raserei forderte eine Zugabe, die Pierre-Laurent Aimard gerne gab – noch einmal Pierre Boulez, eine Notation.
Trompete und vor allem das Englischhorn hatten zuvor bereits viele Soli gefunden und bekamen – vor allem das Englischhorn – bei Béla Bartóks »Der holzgeschnitzte Prinz« (Sz 60) noch einmal bzw. immer wieder führende Rollen. Dabei durfte man staunen – nicht nur Boulez‘ Éclat, auch Bartóks Tanzsuite wurde erstmalig vom Gewandhausorchester gespielt! Warum nur? Schon der Beginn, der einer Wagner-Dämmerung glich, legt eine Aufführung in der Wagnerstadt Leipzig doch nahe. Selbst zwischendrin schimmerte eine Holländer-Romantik, noch dem Schluß gönnte Béla Bartók eine Auflösung, die an Wagner orientiert schien.
Vor allem aber ist »Der holzgeschnitzte Prinz« ein komplexes Werk, das ein immenses Orchester immer wieder rhythmisch neu strukturiert, die Vielzahl der Tänze wechseln läßt. Hier einen Fluß und vor allem die Spannung zu bewahren, erfordert eine Koordination, die deutlich über die leichthin »geworfenen« (sind sie natürlich nicht!) Einsätze bei Boulez hinausgeht. Petr Popelka hat jedoch keine Scheu vor solchen Aufgaben und scheint mit ihnen zu wachsen – fast schon unheimlich!
25. April 2025, Wolfram Quellmalz