Christian Thielemann und die Sächsische Staatskapelle Dresden führen Anton Bruckners fünfte Sinfonie auf
Wenn ein Dirigent schon einige Jahre bei einem Orchester verweilt, kann er wichtige Werke, Kernrepertoire oder Lieblingsstücke, erneut aufgreifen. Festzustellen, ob oder welche Unterschiede es in der Interpretation gibt (oder die Neuauflage einfach mit der Erinnerung »abzugleichen«), kann interessant sein, ja, kann Genuß bereiten. Genuß pur gar – stünden die Konzerte von Kapellchef Christian Thielemann nicht unter dem Zeichen des nahenden Endes. Ob es »noch« oder »nur noch« zwei Jahre sind, ist eine Frage der Empfindung.
Musik ist generell eine Sache der Empfindung, und die kann große Weiten aufspannen, Klüfte überwinden. In den Sinfonien Anton Bruckners sowieso. Christian Thielemann nimmt sie in der Regel mit viel Maß, betont langsam zuweilen, was Raum für (nachvollziehbare) Entwicklung gibt. Daß er jetzt deutlich über der »Vorgabe« (Spieldauer laut Programmheft) blieb, war im Grunde nebensächlich. Viel wichtiger blieb – für die Empfindung – daß er auch der Sinfonie Nr. 5 in B-Dur die Erhabenheit ließ, das Werk dabei aber keine Spur von Monstrosität oder Ungreifbarkeit aufwies. Im Gegenteil: sie schien durchlüftet, erhob sich majestätisch langsam, wie ein Luftschiff, das zwischen den Alpenspitzen gleitet …
Bruckners Sinfonien sind wesentlich seit dem Beginn der Amtszeit von Christian Thielemann in Dresden. Nach und nach vervollständigte er die Gesamtaufnahme, einige Teile gibt es neben der DVD bereits als nachgereichte CD von der Edition Staatskapelle bei Hänssler (Bruckners 5. leider [noch] nicht). Die aktuelle Aufnahme der fünften stammt von 2013, hat aber nach wie vor Referenzcharakter. Zwar entwickelt sich auch Christian Thielemann weiter, doch so wandelbar, daß sein Bruckner heute ganz anders klänge oder dem von vor neun Jahren widerspräche, ist er nicht. Doch genug verglichen.

Pünktlich zum 198. Geburtstag des Komponisten startete die Sächsische Staatskapelle in die neue Spielzeit, sanft schien das Werk heranzuschreiten, von den Streichern getragen, von den Blechbläsern umschmiegt und umschimmert, die Holzbläser ließen die ersten Perlen funkeln. Berückend – im fallenden Tremolo steckt kein »Abwärts«, die Staatskapelle schließt darin ein Lächeln ein und macht die Spannung daran fest.
Im zweiten Satz scheint Schubert herüberzugrüßen. Nicht wie ein moderner Komponist, der sich am »Fragment« der Unvollendeten vergreift, nein – Bruckner scheint den Anfang und die Oboenstimme aus der h-Moll-Sinfonie des Landsmanns aufzugreifen und verleibt sie seinem Adagio ein. So zumindest scheint es so in der luftigen, schwebenden Interpretation von Christian Thielemann.
Kaum weniger erstaunt das Scherzo, das federnd anhebt – da bemängele noch jemand langsame Tempi! Das Funkeln und Leuchten hält an, wird von Soli (Horn / Zoltán Mácsai, Trompete / Helmut Fuchs) gestützt und mündet in eine fein abgestufte Apotheose. Und das war doch nur die erste Aufführung – zweite und dritte werden der Erfahrung nach noch besser. Vielleicht bleiben dann ein mitten in die Ruhe klingelndes Handy und ein vorschnelles (wenngleich berechtigtes) »Bravo!« aus?
4. September 2022, Wolfram Quellmalz
Noch einmal morgen und am Dienstag: Sächsische Staatskapelle Dresden (Leitung: Christian Thielemann) mit der fünften Sinfonie Anton Bruckners, mehr unter: http://www.staatskapelle-dresden.de

DVD-Tip: Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 5, Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann (Leitung), erschienen bei CMajor