Neue CD von Grigory Sokolov
Woran mag es nur liegen? An den Verwerfungen der Zeit, denen der Pianist etwas entgegensetzen möchte, oder an der Musik? Grigory Sokolov, der so ungreifbare Künstler, der keine Interviews gibt und sich auch sonst stets verschlossen zeigt – auf den Titelbildern seiner neuen CD lächelt er! Hat sich Haydns Lächeln aus der Musik auf ihn übertragen?
Grund dafür besteht ausreichend – gleich drei Sonaten des Wiener Klassikers hat Sokolov aufgenommen, dreimal lächelt er dem Zuhörer zu: Nr. 32, 47 und 49 (oder nach Anthony van Hobokens Verzeichnis XVII:44, 32 und 36). Was andere sonst als bekömmliche Einleitung für einen Klavierabend nehmen, zelebriert der russische Pianist mit Delikatesse. Statt (wie sonst) schnell verklungen und unterschätzt zu sein, hebt er Joseph Haydn in jenen Rang, der ihm gebührt. Ähnliches vermochten nur wenige, Alfred Brendel und Evgeni Koroliov, jeder auf seine Weise.
Grigory Sokolov ist keiner, der sich ganz zurückzieht, zumindest musikalisch nicht. Und so dürfen sich Haydns Klaviersonaten behaglich entfalten, wohlig schmeicheln, genüßlich umgarnen – die kleinen Gefälligkeiten erweisen sich als große Kunst! Wie immer handelt es sich bei der Aufnahme von Grigory Sokolov um keine Studioproduktion, sondern einen Konzertmitschnitt. In diesem Fall ein Konzert im Haydnsaal auf Schloß Erstháza – authentischer geht es wohl kaum! Da kann man einzelne Huster im Hintergrund einmal verschmerzen.
Daß zwischen den Werken kein Applaus zu hören ist, kennt man aus Grigory Sokolovs Konzerten – der Pianist bindet gerne zwei oder gleich drei Stücke aneinander, sein Publikum folgt ihm darin mit andächtiger Stille und würde diese Zeremonie niemals unterbrechen. Und so erhebt sich mitten im Verlauf der ersten CD das Moderato, welches den Beginn von Sonate Nr. 49 markiert. Alles ist fein umrissen, zart gestaltet, luftig. Extravaganzen läßt Grigory Sokolov beiseite, dafür perlen die ab- und aufwärts hüpfenden Läufe um so beschwingter. Die kurzen Menuetto– oder Scherzando-Sätze sind ergötzliche Zwischenspiele – von hier kommt das Lächeln, das zu Mozart, zu den Zuhörern damals und bis zu uns heute strahlt. Grazil, in höfischer Eleganz klingt die letzte Sonate – nun noch einmal mit einem langsamen Menuett – aus, sinnt nach, scheint kurz verdunkelt, hellt aber wieder auf – jetzt darf der Applaus einsetzen.
Und dann Schubert. Die zweite CD enthält das Programm nach der Konzertpause incl. der wie abgemessenen kommenden sechs Zugaben. Da ist keine Leichtigkeit mehr, kein Lächeln, da ist Spannung pur! Doch so exzellent Sokolovs pianistische Fähigkeiten sind, so extrem ist manchmal seine Wahl von Tempi oder das Setzen von Pausen. Gerade bei Schubert und Beethoven hat er das in der Vergangenheit schon vorgeführt, übrigens durchaus unterschiedlich in den Konzerten. Dies sei hier angemerkt, denn die NMB haben den Pianisten dabei schon ganz unterschiedlich erlebt.
Das erste der Impromptus (f-Moll) schwebt, zumindest meist, aber zwischendurch scheint sein übertrieben rhythmischer Gestus gebremst, und auch das zweite wird nicht wirklich frei, ihm fehlt das überirdisch Schubert‘sche, Sokolov treibt erneut mehr rhythmisch, als daß er losläßt. Lyrisch und hingebungsvoll erklingt dagegen das »Rosamunde«-Impromptu in B-Dur, das nicht davor zurückschrecken muß, energisch aufzutreten. Mit dem letzten der vier Stücke schloß das Konzert (wie die CD) – vorerst. Grigory Sokolov läßt es hüpfen, freudig springen, aufwärts tollen, bevor er seine Zugaben anschließt. Und da – erst hier – scheint er ganz bei Franz Schubert zu sein, wenn er mit dem vierten Impromptu der ersten Serie fortfährt, das so wunderbar verträumten ist. Hier gelingt dem Pianisten die Symbiose zwischen Schubertscher Grübelei und Haydn’schem, frohsinnigem Optimismus. Noch fünf weiter Zugaben folgen, solche, die man kennt (Rameau / »Le rappel des oiseaux«) wie wenig bekannte Stücke. Alexander Griboyedov war Diplomat und Dramatiker, schrieb aber auch einen Walzer in e-Moll. Und wem das nicht genügt, der greife zur beiliegenden Blu-Ray-CD, die neben dem Ton auch das Bild wiedergibt.
August 2022, Wolfram Quellmalz

Grigory Sokolov (Klavier) »At Esterhazy Palace«, Klaviersonaten von Joseph Haydn, Impromptus D 935 von Franz Schubert sowie weitere Werke, 2 CDs und 1 Blu-Ray-DVD, erschienen bei Deutsche Grammophon