Naher und ferner Westen

Dresdner Kammerchor brach in Sehnsuchtsorte auf

Die A-cappella-Reihe des Dresdner Kammerchores scheint sich immer besser zu entwickeln, denn neben der Qualität des Ensembles überzeugt die Programmatik immer mehr. In diesem Jahr steht sie unter dem übergeordneten Thema der Himmelsrichtungen. Auf »Nord« im Februar folgte am Dienstag »West«, was schon im Ansatz zu einer erstaunlichen Vielfalt führte. Schließlich scheint der Norden – von uns aus betrachtet – auf ein viel kleineres Territorium beschränkt als der Westen, der sich über den Ozean bis nach Amerika dehnt. Doch führte das nicht zu beliebiger Vielfalt, sondern dezidierten Schwerpunkten. Sehnsuchtsorte und Frieden gehörten zu den Merkmalen, die Dirigentin Inga Diestel, seit einiger Zeit auch Assistentin des Dresdner Kammerchores, nannte. Beide Wünsche, so ungreifbar wie schwer realisierbar, schlugen sich spürbar im Programm nieder.

Dirigentin Inga Distel (Bild links), Dresdner Kammerchor im ZentralWerk (Mitte), Ute Wieckhorst (rechts), Photos: Dresdner Kammerchor, © Joschua Vlasanek

Darin enthalten waren erneut Lesungsteile. Die Schauspielerin Ute Wieckhorst war schon 2022 dabei, als die damals noch Pumpenhausmusik genannte Reihe kurzfristig ein neues Zuhause suchte. Mit ihrer ruhigen Erzählstimme sorgte sie zwischen den gesungenen Titeln für ein kurzes Verweilen und Innehalten bei der in Paris lebenden Dichterin Amina Saïd oder dem Schotten John Gibson Lockhart. Die phantastischen Verse Emily Dickinsons aus Amherst / Massachusetts (»Er fragte mich auf stille Weis‘«) füllten die Sehnsucht später mit emphatischer Erregung aus.

Meistens überwog eine innere Ruhe, ein friedvolles Fließen, das schon mit dem ersten Titel, Jean Alain »Chanson a bouche fermée« (Lied für geschlossenen Mund), begann. Der Komponist, den wir in der Regel mit seinem Orgelwerk und vielleicht noch Kammermusik verbinden, hat sich durchaus mit Vokalstimmen beschäftigt, diese kammermusikalisch verarbeitet oder fast instrumental eingesetzt. Sein Chanson war ein äolisches Prélude für Ralph Vaughan Williams’ »Silence and Music«, das mit seiner (angenehmen) Kühle ein wenig an das letzte Programm des Nordens erinnerte und zahlreiche dunklere Farben enthielt – soweit zur »festen Zuordnung« von Charakter und Windrichtung.

Es gibt eben weit mehr als einen »Wilden Westen« – das Gedicht »Stille und Musik« von Ursula Wood, die mit Vaughan Williams verheiratet war, ergänzte das zuvor erklungene Chorwerk einfühlsam. Mit Benjamin Britten (»Lenten is come« / »Der Frühling ist gekommen«) verbanden sich moderne und volksliedhafte Klänge, bevor sein »Carol« den Frühling bis zum Vogelruf hin einzufangen schien. Später folgte mit Amy Beachs andächtig vorgetragenem Friedenssegen (»Peace I leave with you«) und verschiedenen Liedern Hubert Parrys weitere englischsprachige Titel, dazwischen setzten Francis Poulenc, Claude Debussy und Maurice Ravel einen französischen Schwerpunkt. Wobei der Ruhe- und Friedensgedanken von lebhaften, manchmal auch formel- oder ritualhaften Stücken aufgelockert wurde, unter denen Debussys »Dieu! Qu’il la fait« (»Gott, was hast Du für eine Schönheit ihr verliehen«) besonders warm und geschlossen strahlte.

Nach der Pause gab es mit Ravels »Nicolette« den Kammerchor mit wechselnden Stimmen dialogisch, was aber sogleich von »Trois beaux biseaux« mit Chorsolisten, vor allem dem hellen Sopran von Marlene Walter, übertroffen wurde. Der berührenden, lyrisch-traumhaften Geschichte und dem wunderschönen Stück wohnt ein schmerzlicher Gedanke inne – es geht um ein Mädchen, das »Drei schöne Vögel aus dem Paradies« nach ihrem Liebsten befragt, der im Krieg ist. Mit Emily Dickinson, Hubert Parry (»Nether weather beaten sail« / »Niemals steuerte ein sturmgebeuteltes Segel«) und Caroline Shaw (»And the swallow« / »Wie lieblich sind deine Wohnungen«) wendete sich das Programm erneut dem Leben, dem Frieden zu, um schließlich bei Eric Whitacre (»Sleep« / »Schlaf«) eine leise Einkehr zu finden.

17. April 2024, Wolfram Quellmalz

Im nächsten ZentralVokal-Konzert am 9. Juli (19:30 Uhr, ZentralWerk) stehen mit »Ost« und Dirigent Richard Stier Kompositionen von Antonín Dvořák, Arvo Pärt, Vytautas Miškinis und anderen auf dem Programm.

https://www.dresdner-kammerchor.de

Buchtip: Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, Nachdichtung von Gunhild Kübler, zweisprachige Ausgabe, 1408 Seiten, erschienen bei Hanser

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