Nordischer Wind in der Kreuzkirche

Thorsten Ahlrichs zu Gast beim Dresdner Orgelzyklus

Wie vor drei Wochen (Domorganist Johannes Ruben Sturm) hatte Kreuzorganist Holger Gehring gestern wieder Glück, diesmal in Thorsten Ahlrichs schon »Unter der Stehlampe« vorab nicht nur einen eloquenten und auskunftsfreudigen Gesprächspartner zu finden, sondern auch einen, der wesentliche Aspekte seiner Arbeit und Tätigkeit gut vermitteln konnte. Für Ahlrichs, der an der Kirche St. Cyprian und Cornelius in Ganderkesee an einer Arp-Schnitger-Orgel von 1699 arbeitet, gehört zum Beispiel das Übertragen von Werken der norddeutschen Orgelschule auf andere Instrumente zu den spannendsten Aufgaben. Früher waren Orgeln in der Regel mitteltönig gestimmt, weshalb Effekte und Affekte zum Teil eine sehr viel andere Wirkung hatten, wenn zum Beispiel ganz bewußt eine Dissonanz mit dem Ton As notiert wurde. Auf einer modernen Orgel mit ihrer harmonisch geglätteten Stimmung heute läßt sich derselbe Ton so nicht nachempfinden. Die damaligen Affekte trotzdem darzustellen, sei eine Herausforderung, mache aber Spaß, erklärte Thorsten Ahlrichs.

Und so erklangen die ausgewählten Werke nicht nur auf der großen Jehmlich-Orgel, sondern auch auf der kleinen Wegscheider-Orgel. Manches kann sie vielleicht »gerechter« hervorbringen, schließlich läßt sich in ihrer Stimmung umstellen bzw. transponieren, die vom Orgelbauer aufgegriffene Konstruktionsidee (1693 für die Klosterkirche Mönchsdeggingen im Ries, gab das Programmheft Auskunft) liegt zeitlich übrigens nahe an dem, was der Gastorganist von zu Hause kennt.

Mit Dieterich Buxtehudes Praeludium ex g (BuxWV 150), Johann Steffens‘ Fantasia quarti toni sowie den drei Verse pro organo pleno über »Jesus Christus, unser Heiland, der von uns« von Nicolaus Hasse durfte zunächst aber die große Orgel zeigen, wie wandlungsfähig das moderne Instrument ist. Thorsten Ahlrichs hatte keine Mühe, damit die licht- oder luftdurchflutete norddeutsche Musik in ihrer Vielfalt aufblühen zu lassen. Er beließ eine Filigranität, ließ die Orgel »schlank« oder »kleiner« klingen (was sich im Finale ändern sollte), legte dadurch manche Entdeckung offen. So überraschte Buxtehude mit seinem unvermittelten Schluß – was die Frage aufdrängt, weshalb der Komponist dies tat. Wollte er einfach ein abruptes Ende oder war das Werk für einen Anlaß gedacht, bei dem im direkten Anschluß ein anderes Werk oder ein liturgischer Akt den kompositorischen Faden fortsetzen sollte? In Steffens‘ Fantasia entstand aus einer schlichten Melodie ebenfalls eine Art Orgellandschaft – diesmal aus den nacheinander folgenden bzw. ineinander greifenden Registern, welche das Thema fortwährend entwickelten. Nicolaus Hasse ließ den Choral über die Verse stetig wachsen, ohne ihn aber zu stark zu verändern. Anders als später bei Heinrich Scheidemann konnte man ihn klar erkennen.

Zunächst setzte Thorsten Ahlrichs aber an der Liegenden Orgel Johann Adam Reinckens (nicht sicher zugeordnete) Toccata ex g, eine Paduana (bzw. Pavane) von Paul Siefert sowie ein weiteres Praeludium ex g (BuxWV 163) von Dieterich Buxtehude in Szene. Überraschend war die weiche Konturierung der Werke (gerade in der Toccata – kommt der Begriff doch vom »schlagen«). Bei Reincken bzw. seinem Nachschöpfer gibt es sogar feine Bläser- bzw. Vogelstimmen in einem Trio- / Mittelteil. Paul Sieferts Paduana wiederum überraschte mit ihrer stimmungsvollen Gestalt und dem Wechsel der hellen und dunklen Figuren bzw. Variationen. Ganz anders als zu Beginn hatte Dieterich Buxtehude sein Praeludium BuxWV 163 mit einem in Girlanden ausgeführten Schluß versehen.

Zurück an der großen Orgel schloß Thorsten Ahlrichs sein Programm mit zwei phantasievollen, kunstreichen Werken ab, die jedes für sich Meisterstücke sind: Heinrich Scheidemanns Choralfantasie über »Jesus Christus, unser Heiland, der von uns« sowie einem Praeludium ex E (Pedaliter) des legendären Nicolaus Bruhns. Während Heinrich Scheidemann das Choralthema sehr frei als musikalisches Material betrachtet und es großen Veränderungen und Ableitungen unterwirft (erschreckend für eine Gemeinde im Gottesdienst, die dabei die Orientierung verliert), steigerte sich Bruhns‘ Praeludium prachtvoll und schien sämtliche Orgelwerke zu erreichen (ähnlich dem französischen plein jeu). Hier verbanden sich helle Melodie und Kontrast, gedämpfte Stimmung und expressive Register (Bläser) zu einem beeindruckenden ganzen – und zeigten, wie unterschiedlich die »Wege« bei der Übertragung von Werken bzw. der Registrierung sein können.

23. März 2023, Wolfram Quellmalz

Hörtip: Thorsten Ahlrichs an der Schnitger-Orgel von St. Cyprian und Cornelius (1699) in Ganderkesee, CD »Lieblingsstücke. Folge 3: Orgelwerke des Barock«, mit Werken von: Heinrich Scheidemann, Hieronymus Praetorius, Melchior Schildt, Vincent Lübeck, Georg Dietrich Leyding, Matthias Weckmann, Franz Tunder, Georg Böhm und Dieterich Buxtehude, erschienen bei Nomine

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