Jonathan Nott im Dialog mit Dresdner Philharmonie und AuditivVokal
Moderne, fast experimentelle Werke, Stücke des zwanzigsten Jahrhunderts aus einer wenig gespielten Repertoirenische – sicherlich hat nicht Igor Strawinskys »Le sacre du printemps« allein das Publikum am Sonnabend in den Dresdner Kulturpalast gelockt. Es war aber mehr als nur eine Programmaufstellung dahinter – Dirigent Jonathan Nott hinterließ damit ein weiteres Mal seine Handschrift, die zwei an sich getrennte Gegenüber verband. Zweimal präsentierte AuditivVokal A-cappella-Werke, nach denen die Dresdner Philharmonie mit erzählerischen Werken eigene Fäden sponn.
Wo fand man nun – ob mit oder ohne dezidierte Erwartung – die größte Erfüllung? Vielleicht beim Chor. Auf dem Chorrang unter der Orgel hatten sich die sechzehn Sängerinnen und Sänger verteilt, die in recht luftiger Aufstellung (statt im engen Block) einen weiten, tragfähigen Klang entwickelten. Daß Jonathan Nott über eine vermeintliche große Distance dirigierte (er stand auf seinem Pult vor dem Orchester, das aber hier noch schwieg), war angesichts der Farbigkeit in Olivier Messiaens »O Sacrum convivium« (»O heiliges Gastmahl«) im abgedunkelten Konzertsaal bald vergessen. Messiaen hat seiner Musik eine ganz besondere Chromatik verliehen, die nicht auf bestimmte Farbspektren festgelegt, sondern offen und variabel, trotzdem aber typisch und unverwechselbar ist. Der kurze Text, dessen Zeilen wiederholt werden, erfuhr durch AuditivVokal (Einstudierung von Ensembleleiter Olaf Katzer) eine Gestaltung, die vor allem in die Tiefe zielte. Ruhige, langsame Bewegungen sorgten dafür, auf den Text und seine Bedeutung zu lenken, gleichzeitig gab es mit den Sopranen in einer Ebene über den anderen einen Überhöhungseffekt.

Solch enge Verknüpfung oder Verbundenheit wirkte in György Ligetis »Lux aeterna« (»Ewiges Licht«) am Beginn des zweiten Konzertteils sogar noch stärker. Zunächst, weil Ligeti Worte und Klang als Elemente oder Bausteine benutzt, die er beliebig neu fügt. AuditivVokal nutzte die Stimme im doppelten Sinn als Instrument: einerseits für Gesang (Instrument des Jahres), anderseits, um einen Klang, unabhängig von Wort und Botschaft (trotzdem damit verbunden), zu kreieren. Anfangs erweckte dies den Eindruck eines äolischen Instruments oder einer Glasharmonika, die mitschwang, doch es waren »nur« die Stimmen der sechzehn Sänger. Der eigentliche Text erfuhr im Teil »Requiem« eine immer stärkere Ausformung. Mit verblüffender Wirkung: obwohl die Melodie abwärts gerichtet war, stellte sich auch hier ein Effekt ein, als erreiche man eine höhere Ebene.
Beide Male folgte dem A-cappella-Werk ein Orchesterstück mit der Dresdner Philharmonie. Beide waren von einer besonderen Farbigkeit getragen. Am eindrücklichsten wohl in einer Sinfonischen Suite aus Claude Debussys Oper »Pelléas et Mélisande«, die Jonathan Nott zusammengestellt hatte. In einer knappen dreiviertel Stunde zeichnet er den Handlungsraum der Oper nach – Übertitel zeigten den Beginn der Abschnitte an, die nahtlos ineinander übergingen. Die Einblendungen konnten ablenken oder eine Hilfe beim Navigieren in der Geschichte sein – der neugierige oder kundige Besucher wußte selbst zu entscheiden, was ihm wichtiger war. Auch das Farblicht, anfangs recht auffällig grün, erwies sich als weniger störend als zunächst gedacht. Denn es floß allmählich über in Türkis und Blau – so wie die Musik. Denn trotz der teils dramatischen Handlung werden glückliche Momente wie tragische Szenen nicht stark hervorgehoben. Vielmehr hat Debussy verdeutlicht, daß alles zusammenhängt und im Grunde ambivalent ist. In »guten Zeiten« ist eine unterschwellige Bedrohung bereits hörbar, die schlechten Zeiten bleiben den guten verbunden, vom einem zum anderen führt ein Weg des Übergangs, die Jonathan Nott weich konturierte. Musikalisch war dies phantastisch dargeboten, ein ruhiger Fluß, dessen trauriges Ende (Tod Mélisandes) noch mit seinem friedlichen Aushauchen der Streicher etwas Versöhnliches hatte. Ganz anders als »Le sacre du printemps« von Igor Strawinsky. Zwar mag das »Frühlingsopfer« längst keine Skandale mehr auslösen, zumindest einen inneren Tumult bereitet es dem Zuhörer nach wie vor. Was aber am Sonnabend trotzdem nicht ohne Verblüffung blieb, weil die flammende Farbigkeit von einem prägenden Rhythmus überstimmt wurde, den Jonathan Nott noch in der größten Ausbaustufe des Orchesters mit einigen Gästen (unter anderen der Sächsischen Staatskapelle) in feinster Präzision bewahrte – andere Dirigenten liefern hier eine fragwürdig sportive Choreographie an, überlassen das Orchester aber sich selbst. Ob das fahl schimmernde zweite Vorspiel, die stampfenden Tanzszenen oder die Klangkaskaden – Rhythmus war eben alles!
23. März 2025, Wolfram Quellmalz