Das zweite Gastspiel im Dresdner Schauspielhaus wurde am dritten Aprilwochenende vom Deutschen Theater Berlin gegeben. Aischylos‘ Klassiker gilt als das älteste erhaltene Drama der Literaturgeschichte, greift aber nicht – wie bei den überlieferten Stoffe üblich – die Mythologie, sondern ein tatsächliches Ereignis auf: die Schlacht der bei Perser gegen die Griechen vor Salamis. Die übermächtige Flotte der Perser unter König Xerxes wird vernichtend geschlagen, mit nur wenig überlebenden Männern kehrt Xerxes heim – keine Legende.
Monolithisch ragt ein weißer Quader als einzige Requisite auf der Bühne empor und erinnert an Stanley Kubricks »2001«. Wie im Film ist er Symbol, Folie für das eigentliche Thema: Menschheitsentwicklung, Apokalypse, Untergang, Rückkehr bzw. Wiedergeburt – kein endgültiges Ende, sonst könnten jene, die es überleben, nicht davon erzählen. Bei Kubrick führt der Monolith zu Bewußtseinsveränderungen, ist außerirdischen Ursprunges. Bei Regisseur Dimiter Gotscheff verändert der Monolith das Bewußtsein auch, ist aber nicht außerirdisch, sondern von Menschenhand geschaffen, ist Wand, Stütze, Begrenzung, Interaktionsmittel.
Wolfgang Koch und Samuel Finzi bewachen die Begrenzung – oder stehen einfach daneben, als sei es eine Hecke zwischen zwei Gärten – starren geradeaus, beginnen, »Grenze verschieben« zu spielen, im heiteren Unernst, aber mit wachsender Zielstrebigkeit – Eindringling und Verteidiger.
Der von neodadaistischem Kauderwelsch begleitete Prolog untermalt, »was bisher geschah«. Nun beginnt das eigentliche Stück, von den vier Darstellern allein getragen. Wolfgang Koch und Samuel Finzi wechseln dafür in den Rollen von Boten zum Schatten des Dareios (Geist des verstorbenen Königs, Wolfgang Koch) bzw. Xerxes (Samuel Finzi). Almut Zilcher als Xerxes‘ Mutter Atossa und Margit Bendokat als Chor vervollständigen das Quartett. Kammerspielartig füllen sie die Bühne (Mark Lammert, auch Kostüme) und stützen sich auf den Text in der Übersetzung Heiner Müllers (nach einer Übertragung Peter Witzmanns). Meist sind es Monologe, wird erzählt, berichtet, was passiert ist. Von den übermächtigen Heeren, die sich zusammenschlossen berichtet Atossa, von der Niederlage der Bote, schließlich Xerxes‘ Eingeständnis – er hat, so scheint es, das Glück gefordert, leichtfertig, in Anmaßung und Größenwahn. Das Resultat: ein zerstörtes Weltreich, tausende Tote Krieger, ein ganzes Volk muß die Niederlage des einzelnen büßen. Xerxes‘ Name wird nur noch mit Haß und Verachtung ausgesprochen. Der Geist Dareios‘ deutet die Niederlage als göttliche Bestrafung.
Nicht nur in der Ausstattung, auch in der Handlung ist das Werk minimalistisch – es passiert praktisch nichts (es ist ja schon passiert): warten auf Xerxes, böse Vorahnung, Bericht der Boten, Rückkehr Xerxes‘ und Auswertung der Niederlage. Man blickt zurück, klagt. Ein Stück, das die Folgen des Handelns in den Mittelpunkt rückt. Trotz Deutung des göttlichen Eingreifens ist die Verantwortung des Menschen also – zumindest implizit – enthalten.
Klassische Sprechkunst ist es auch, die uns da vorgeführt wird, wenn Almut Zilcher minutenlang den Staaten- oder Wehrverbund erzählt, langsam zieht Ruhe ein im Schauspielhaus, hört das Husten auf – beeindruckend! Doch stehen ihr Margit Bendokat, Wolfgang Koch oder Samuel Finzi in nichts nach, deklamieren mahnend, packend, erzählen. Wie sie gehen und wanken, gebückt, gekrümmt, belastet, mit nichts als einer weißen Wand (sie wirkt irgendwie nicht strahlend, sondern unrein – befleckt?) und Licht (Olaf Freese), das ist Beklemmung pur. Und es ist unentrinnbar, kein Ausweg, keine Lösung, alles scheint verloren, hat aber auch eine göttliche Ordnung. Also doch eine Chance auf Neuanfang? Zurück zum Spiel »Grenze verschieben«?
21. April 2015, Wolfram Quellmalz